Whisper (German Edition)
konnte, „musst du dich ausgerechnet hier unter einen Baum legen, wo alles Wasser der Welt gerade jetzt runter kommt? Kino, verdammt nochmal.“
Kino hatte aufgegeben, sich gegen den Baum zu wehren. Er spürte die Schwere auf seinem Bein und der Schmerz begann langsam aber stetig in seinen Rücken zu wandern.
„Was machen wir jetzt, Kino?“
Stefan war normalerweise ein ruhiger, durchdachter Mensch, der sämtliche Facetten der Wildnis kannte und durchlebt hatte. Doch bisher war er noch nie in der Situation gewesen, einen Freund verlieren zu können, weil er nicht in der Lage war, ihm zu helfen. Und das brachte ihn nicht nur aus dem Konzept, sondern ließ ihn schier verrückt werden.
„Du wirst hier erfrieren und die Ranch … verflucht … die ist einfach zu weit weg. Shit, Kino, shit, shit, shit.“
Kino sah, wie Stefan zitterte, wie ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben und im Moment war er unfähig, auch nur einen klaren Gedanke zu fassen.
„Stevie“, er griff nach der Hand seines Freundes, zog daran und blickte ihm starr in die Augen, „verlier jetzt nicht die Nerven zum Kuckuck. Damit hilfst du mir auch nicht. Die Jagdhütte ist nicht mehr weit und dort gibt es Werkzeug. In dem alten Schuppen hinter der Hütte sollten noch zwei Kettensägen liegen. Hoffentlich mit genügend Sprit und Öl. Reite hin und hole sie. Dann kannst du den Baum zersägen und mir hier raushelfen.“
Stefan sah ihn mit großen Augen an.
„Aber, ich kann dich hier nicht allein lassen. Ich – ich brauche eine ganze Weile, bis ich bei der Hütte, und auch bis – bis ich wieder da bin. Was – was ist, wenn, was ist, wenn … wenn.“
Kino erkannte die Panik, die in Stefan hochkeimte. Er selbst kratzte hart daran, nicht selbst die Fassung zu verlieren, aber noch wollte er nicht dulden, dass es von ihm Besitz ergriff. Das konnte für ihn den Tod bedeuten.
„Stevie“, mahnte er seinen Freund, „das ist meine, unsere einzige Chance. Reite zur Hütte. Ich werde hier durchhalten. Wenn du mir helfen willst, dann reite zur Hütte. Vertrau dir selbst. Der Große Geist wird mich beschützen. Mir passiert nichts.“
Eine große Erleichterung für Stefan war das nicht gerade. Dem Großen Geist zu vertrauen und sich zu beruhigen war ihm in der Sekunde einfach zu wenig, aber sein Verstand sagte ihm, dass es der einzige Weg war, Kino zu retten.
„Okay“, meinte er schließlich bitter. „Okay, okay. Ich drehe durch, wenn du dann nicht mehr da bist, Kino. Ich drehe dann echt durch.“
„Ich laufe nicht weg, Stevie. Versprochen. Ich müsste ja den Baum mitnehmen.“
Das erste Schmunzeln kam über Stefans Gesicht. Er hatte recht. Wie sollte Kino verschwinden, wo … Er konnte nicht verschwinden, er musste nur … durchhalten.
„Okay!“, erklärte er nochmals, bevor er sich umwandte und wieder nach einem der Äste griff, um sich hochzuziehen. „Ich werde so schnell wie möglich wieder hier sein.“
Langsam kletterte er wieder durch die Äste durch, die ihn zu halten versuchten, quetschte sich durch das Holz, schob sich vorwärts. Vorsichtig setzte er seine Füße, mit Bedacht suchten die Finger Halt. Wieder zuckte ein Blitz. Der Donner folgte kurz darauf, ließ aber den Boden nicht mehr erzittern. War das Gröbste bereits vorbei, oder hatte der Himmel lediglich eine Pause eingelegt? Nach wie vor war die Elektrizität in der Luft deutlich zu spüren, auch wenn der Regen sie bereits wegzuwaschen versuchte. Stefan sah nochmal zu Kino zurück. Es widerstrebte ihm zutiefst, seinen Freund alleinzulassen. Aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Wieder griff er nach einem Ast vor ihm, stand im Begriff sich zwischen zwei Gabeln durchzuschieben, wobei ihn eine plötzliche Windböe heftig erfasste. Wie ein Prellbock rammte die Böe seinen Körper, traf ihn mit voller Wucht. Wild riss der Sturm an seinem Körper, warf ihn nach hinten. Stefan spürte, wie ihn die Naturgewalt zur Seite drückte, suchte mit seinen Fingern etwas weiter links nach Halt, spürte die durchweichte Rinde eines Astes, wollte zugreifen, rutschte aber über das nasse Moos ab. Instinktiv versuchte er seinen Fuß anders zu setzen, um das Gleichgewicht zu halten, als der Ast unter ihm mit einem knirschenden Geräusch nachgab. Erschrocken versuchte Stefan wieder nach irgendwas zu greifen, fand ein Ästchen, wollte zugreifen, als er spürte, wie es brach. Mit den Händen rudernd versuchte Stefan dem drohenden
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