Whisper (German Edition)
hatten. Ihre Geschichte war in der Hütte erzählt worden, in einer Atmosphäre des Vertrauens und sollte bei denen bleiben, die sie gehört hatten. Alle hatten versprochen sich daran zu halten. Auch Patrick war aufgefordert worden, dicht zu halten. Wenn einer diesen Teil der Geschichte nochmal erzählen sollte, dann Jasmin selbst, und niemand sonst.
Mit tropfenden Haaren, gehüllt in eine Jogginghose und ihrem Kapuzenshirt, stand Jasmin vor ihrem Bett und ließ die Geschehnisse Revue passieren. In den letzten Stunden hatte sich vieles abgespielt. Vielleicht war sie ein wenig über sich hinausgewachsen, was der Grund war, warum ihr vonseiten ihrer Mitstreiter soviel Bewunderung entgegen kam. Jasmin hatte über ihr Handeln nicht weiter nachgedacht, sich lenken lassen und genau jetzt, während sie ihren Blick aus dem Fenster richtete und die Vögel beobachtete, wurde ihr klar, dass sie sich in München unnütz vorgekommen war. Als Last. Man hatte beteuert sie zu verstehen, versprochen ihr zu ´helfen`, und sie dabei in ein normales Leben gepresst. Sie besaß ein eigenes Zimmer, mit Radio, Fernsehen, DVD Player, Playstation, PC mit Internetanschluss, ein Handy, welches sie kaum bis nie benutzt hatte, eigentlich alles, was andere auch hatten und was wichtig sein sollte.
In den letzten Stunden hatte sie nichts besessen, außer ihren unfehlbaren Instinkt, ihr Gefühl und das maßlose Vertrauen in die Wildnis und die Wesen, die ihr immer wieder begegneten. Sie hatte gefühlt, gehört, gelauscht und sich leiten lassen. Whisper war längst tot, schon eine ganze Weile, und trotzdem war sie da. Sie war in der Lage, sie zu spüren und sie in der Form des goldenen Pferdes zu sehen. Es war etwas, wonach sie greifen konnte, was ihr half, gewisse Dinge zu akzeptieren und mit ihnen umzugehen. Und das Wichtigste. Man glaubte ihr. Man respektierte das, was sie sah, hörte und fühlte, ohne sie zum nächsten Psychiater zu schicken. Niemand zwang sie anders zu sein, und das gab ihr Mut, nach vorne zu sehen. Sie würde noch eine Weile auf Six Soul verbringen. Vielleicht würde sie es nach dieser Zeit schaffen, ihren Pflegeeltern unter die Augen zu treten, um ihnen zu sagen, dass sie ihre Entscheidungen, was ihren weiteren Lebensweg betraf, selbst treffen wollte.
Dass das ein weiter und gewagter Schritt war, wusste auch Jasmin, weswegen sie kurz aufseufzte und fast automatisch mit den Schultern zuckte. Sie dachte an Kino, den sie dort in der Hütte zurückgelassen hatte. Sein Großvater war mit ihm zum Arzt gefahren. Judith war vermutlich längst im Krankenhaus, wo man dafür sorgte, dass sie keine bleibenden Schäden davontragen würde. Judith hatte versucht, ihr das Leben zur Hölle zu machen, dennoch wünschte sie ihr nichts Schlechtes. Sie sollte wieder einigermaßen sauber hergestellt heimfahren können.
Jasmins Gedanken wanderten weiter zu Tom, der am Waldrand auf sie gewartet hatte. Es war nicht anders zu erklären, und sie war auch nicht gewillt, eine große Erklärung zu suchen. Sie hatte das Leuchten in seinen Augen gesehen, seinen fröhlichen Gesichtsausdruck. Tom hatte auf sie gewartet, genauso, wie er sie am Abend zuvor ´geholt` hatte, um ihr zu zeigen, dass die Kids in der Klemme steckten. Jaro hatte von einer „Chance“ gesprochen. Tom versuchte ihr Freund zu sein, und sie würde ihn nicht lassen. Stimmte das? Ließ sie nicht zu, dass der gute Tom zu ihrem Herzen vordrang? Sie hatte Tom beobachtet, seine Reaktion bemerkt und hätte schwören können, dass er ihre Worte verstanden hatte. Tom ist lieb, aber Tom ist nicht Whisper. Ihre Worte! Wäre Tom ein Mensch gewesen, wäre es eine harte, verbale Ohrfeige gewesen. Aber Tom war kein Mensch, er war ein Pferd und trotzdem … teilnahmslos hatte er sich in die Ecke gestellt. Seit sie ihn kannte, war er für sie da gewesen, hatte sich ihr angeschlossen und auf seine pferdeeigene Art gezeigt, dass er sie mochte. Hatte Jaro recht? Suchte er ihre Freundschaft? Reagierte sie wirklich so wenig auf ihn? Seine Augen, dieser Blick. Sie hatte ihn verglichen. Seine Augen waren Whispers Augen. Sein Blick, ihr Blick, und doch war er nicht Whisper. Whisper war diejenige, der sie schon zu Lebzeiten alles gegeben hatte, und die sie entsetzlich vermisste. Es war ein Segen, sie hin und wieder zu hören und zu spüren, sie in ihren Träumen oder in der Gestalt Mysterys zu sehen. Aber Tom war eben doch nur Tom, ihn so zu lieben wie Whisper, ein Ding der Unmöglichkeit, denn in relativ
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