Whisper (German Edition)
glauben, nur einen Weg zu haben. Das ist nicht richtig. Manchmal nimmt man den falschen Weg, lernt daraus, und muss wieder umdrehen, um den Richtigen zu finden. Manchmal betreten wir den Weg, der uns vorgegeben ist und verlassen uns nicht auf die innere Eingebung. Niemand von uns sollte an Jasmin vorbeisehen.“ Wieder machte er eine Pause, spürte die Blicke auf sich ruhen. „Whisper möchte gehen“, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. „Aber sie will ihre Seele nicht freilassen, solange Jasmin sie braucht. Sie nimmt jede noch so kleine Empfindung des Mädchens wahr, und wird so lange über sie wachen, solange es niemanden gibt, der das für sie tun kann. Ist der letzte Berg erklommen, wird sich Whisper für immer verabschieden und eine Erinnerung bleiben. Jasmin kann sich nicht selbst helfen. Es liegt in unserer Macht, es zu tun, auch wenn wir damit Wege beschreiten, die nicht ganz in die vorgefertigte Ordnung passen.“ Der alte Mann schnappte sich einen Stuhl und setzte sich vorsichtig an einen der Tische, strich das Haar nach hinten, wobei ein fast schon niedliches Lächeln über sein Gesicht huschte. „Wir sollten mit dem Schlafen gehen noch etwas warten“, erklärte er gedehnt, „denn Kino wird Jasmin mit nach Hause nehmen wollen!“
In dem Raum wurde es still. Es wurde immer still, wenn Kinos Großvater seine Worte durch den Raum schweben ließ. Worte wie diese. Worte mit Bedeutung. Man fühlte den tiefen Respekt, den der alte Mann vor den Mächten hatte. Die Worte David Singing Birds hatten einen tiefgreifenden Hintergrund und sie fanden auch jetzt ihren Empfänger. Es gab Momente, in denen man einfach sein Leben lebte, aber es gab auch jene, an denen es wichtig war, zu sehen, zu hören und zu handeln. Einer davon war jetzt … Six Soul war gegründet worden, um jungen Menschen zu helfen und diesmal sollte der Name der Ranch seiner Aufgabe gerecht werden.
„Jasmin!“ Kino blickte über die Boxenwand und sah den schlafenden Körper im Stroh zusammengerollt liegen. Tom hielt seinen Kopf über das Mädchen und blickte Kino leicht missmutig entgegen, als er die Box betrat. Der junge Indianer streichelte kurz über seinen Hals und seine Nase.
„Danke, Tom, dass du auf sie aufgepasst hast.“
Es waren nur kurze Worte, weder andächtig gesprochen noch anderweitig verschönert, sondern einfach nur gesagt, weil sie eben gesagt gehörten, und trotzdem … Tom trat bereitwillig zur Seite und überließ Jasmin Kino. Dieser kniete sich langsam neben ihr ins Stroh und berührte sie sanft. Leicht strich er über ihr Gesicht, bewegte einige Haare zur Seite und betastete die Narben, die ihr Leben so verändert hatten. Verletzungen, die nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre Seele zerschnitten hatten. Sie hatte ihre Geschichte erzählt. Auf eine gewisse Weise einfühlsam, obwohl sie an Grausamkeit einiges zu bieten hatte. Wie konnte ein Vater seiner Tochter das nur antun? Wie konnte man einem Menschen sowas überhaupt antun? Ihre Hand lag im Stroh, unbedeckt. Er hob sie auf, betrachtete sie, fasste auch hier nach den Zeugen ihrer Vergangenheit. Es war unglaublich, was Ärzte möglich gemacht hatten. Sie konnte ihre Hände wieder verwenden, zwar schwach, aber doch. Ein Geschenk? Kino konnte sich an jenen Moment erinnern, als ihr Judith den Sattel entgegengeworfen hatte. Der schwere Sattel in ihre schwer verletzten Hände. Ihn zu greifen, nicht machbar, aufzuheben, unmöglich. Und trotzdem hatte sie es geschafft, die Bärenfalle zu öffnen. Wie passte das zusammen? Eine Falle zu öffnen … dazu gehörte schon etwas mehr, als einen Sattel aufzufangen. Dinge, die Jasmin begleiteten, genauso wie ihre Vergangenheit sie ein Leben lang begleiten würde. Es war eine Illusion zu glauben, die Menschheit würde sich an ihre Entstellung gewöhnen. Vielleicht ihr Umfeld, ja, aber jeder Fremde, der dieses Umfeld betrat, würde unweigerlich einmal mehr zum Glotzer werden und derjenige sein, der später Fragen stellte. War ein normales Leben mit dieser Entstellung überhaupt möglich? Konnte man lernen, damit umzugehen? Konnte man lernen, die Blicke und das Getuschel anderer zu ignorieren?
Vielleicht, bis zu einem gewissen Grad, aber ein gewisser Rest würde bleiben. Nochmal strich er ihr sanft übers Gesicht und sprach ihren Namen aus. Erst jetzt bewegte sie sich etwas, doch es dauerte noch eine Weile, bis sie die Augen öffnete, blinzelte, ihn erkannte und hochschoss. Der Blick, er war noch verschwommen, der Geist,
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