Whisper (German Edition)
übersehen. Oder gewollt zurückgelassen? Stefan atmete heftig durch. Schon einmal hatte man ihm das zerstörerische Ausmaß von Wilderern gezeigt. Blutig, grausam, nur, um an eine Trophäe zu kommen. Dieser Kriegsplatz übertraf jenen, den er schon einmal gesehen hatte. Kein normaler Jäger, der seine Jagd mit Hirn und Verstand betrieb, würde eine Kitz führende Mutterkuh erschießen, oder einen Bullen seines Geweihs wegen töten. Es war ekelhaft zu sehen, zu was Menschen fähig waren, nur um sich einen präparierten Schädelknochen mit einem Geweih an die Wand hängen zu können. Widerlich.
Stefan musste sich zwingen, den Blick von den toten Tieren abzuwenden. Es war für ihn entsetzlich zu begreifen, dass das Kitz neben seiner toten Mutter verharrt hatte, mehr oder weniger dem Untergang geweiht, da es in der Wildnis absolut keine Überlebenschance hatte. Vorsichtig kniete Stefan neben Jasmin nieder, die das kleine Wesen in ihren Armen hielt.
„Das ist ein Wapitikitz“, erklärte er leise und strich dem Tierchen über den Kopf, welches sich etwas beruhigt hatte und sanft atmend bei Jasmin eingeschlafen war. Das Mädchen blickte nur kurz auf. Es bedurfte keiner Worte um zu erkennen, welche Frage sie stellte, und Stefan hatte keine vernünftige Antwort für sie.
„Gehen wir zurück“, meinte er leise, während sein Blick nochmal über den Körper der toten Mutterkuh strich. Das Tier war noch keine vierundzwanzig Stunden tot. Erstaunlich, dass sich noch keine Räuber eingefunden hatten.
Stefan stand auf und griff Jasmin unter die Arme, damit sie mit dem Kitz besser hochkam. Sanft lag das Tier in ihrer Armbeuge und bewegte sich auch nicht, als Jasmin von Stefan zu den Pferden zurückgeschoben wurde.
Die Jugendlichen erschraken allesamt heftig, als die beiden Raben plötzlich mit einem Aufkrächzen davonflogen. Doch nur Momente später konnten sie Stefan und Jasmin erkennen, die sich ihren Weg durch die Zweige bahnten. Edith war die Erste, die das Fellbündel in Jasmins Armen entdeckte.
„Seht euch das an“, rief sie in ihrer lauten Art aus. „Wo habt ihr das denn her?“
Sie stand im Begriff auf Jasmin zuzustürzen, wurde aber von Christina zurückgehalten, die ihr noch dazu einen warnenden Blick zuwarf. Außer Edith selbst bemerkte kaum einer diese Geste.
„Wilderer haben dort hinten ein Blutbad angerichtet“, klärte Stefan die Kids auf und blickte dabei von einem Gesicht ins andere. „Das Kitz hat seine Mutter verloren. Wir werden es wohl auf die Ranch mitnehmen müssen.“
Patrick trat heran und streckte zögernd die Hand nach dem Tier aus. Als er es wagte, es zart zu berühren, erzeugte das ein Lächeln in seinem Gesicht. „Hätte nie gedacht, dass das Fell so weich ist“, meinte er leise. „Rehe habe ich bis jetzt nur im Internet gesehen.“
„Das ist kein Reh“, verbesserte Stefan, „ sondern das Kitz eines Wapitis. Sie sind wesentlich größer als das Wild, welches ihr aus Deutschland kennt. Hier nennt man dieses Tier auch Elk, weil es aber ständig zu Verwechslungen mit dem Elch kommt, haben sich viele Ansässige auf Wapiti geeinigt. Wapiti heißt ´Weißes Hinterteil` und entstammt den Shawnee Indianern.“
Patrick sah Stefan lange an.
„Für einen ehemaligen Straßenjungen bist du aber erstaunlich gut informiert“, nahm er die Belehrung zur Kenntnis.
„Wenn man hier lebt, sollte man wissen, mit was man lebt. Du würdest einen Bernhardiner ja auch nicht für einen Pudel halten, oder?“
„Und wer hat dir das alles beigebracht, du großer Meister?“
Stefan lächelte ihn an.
„Na wer wohl, Jaro und Kino Singing Bird. Sie gehören zu den First Nations.“
„First Nations?“ Markus drückte sich an Patrick heran. „Was ist das jetzt wieder?“
Stefan lächelte.
„So werden die Ureinwohner genannt. Jaro Singing Bird und sein Sohn Kino sind Indianer. Sie leben aber nicht im Reservat, sondern auf ihrer Viehranch, wo auch Kinos Großvater lebt. Eine Mutter hat er nicht mehr. Soviel ich weiß, ist sie vor einigen Jahren gestorben.“
Nun war auch Ediths Neugier geweckt. Sie achtete nicht mehr auf Christinas warnenden Blick, ließ sie einfach stehen und kam ebenfalls an Stefan heran.
„Die gehören wirklich zu den Indianern? So ganz echt?“
Stefan nickte.
„Komisch, ich habe mir Indianer immer anders vorgestellt. So mit Pfeil und Bogen, wild reitend und schreiend auf einem Pferd. Mit viel Farbe im Gesicht und diesem Huahua-Geschrei.“
„Du schaust zu viel
Weitere Kostenlose Bücher