Whisper (German Edition)
beiden Vögel erst jetzt auf, die ruhig im Geäst eines Baumes am Wegrand saßen und auf sie herabblickten? Zwei Raben. Groß, tiefschwarz, und er wusste, dass sie die Kids und ihn beobachteten. Stefan verhielt nur für einen Moment. Wenn er dem vertrauen durfte, was er bisher in diesem Land gelernt hatte, dann sagte ihm jetzt eine innere Eingebung, dass diese beiden Raben ein besonders wachsames Auge auf Jasmin geworfen hatten.
Später als geplant ritt die Gruppe auf den Hof der Six Soul Ranch ein. Kinsky hatte sich auf der Veranda in einen alten Schaukelstuhl gesetzt und gewartet. Als er die Reiter dann endlich bemerkte, stand er ruckartig auf. Stefan zeigte ihm mit einem Winken, dass alles in Ordnung war. Da schau an! Hatte es die Jugend doch in die Sättel geschafft. Hinter Stefan ritten die beiden Mädchen, die ebenfalls ihre Arme erhoben hatten, dahinter die Jungs und … Kinsky hielt kurz den Atem an und wagte seinen Augen nicht zu trauen. Ganz hinten kam Jasmin, zu Fuß, hielt Tom am Zügel und hielt ein Fellbündel im Arm. Jasmin, zu Fuß! Das konnte doch nicht … Heute Morgen hatten sie noch darüber gescherzt, aber nie und nimmer hätte er sich vorgestellt, dass sie fähig war, den … Das Mädchen marschierte nicht mehr, sondern befahl ihren Beinen nur noch, sich zu bewegen. Es wirkte mechanisch, weder wirklich temperamentvoll noch voller Tatendrang. Vermutlich formte ihr Gehirn nur noch zwei Befehle. Linker Fuß vor! Rechter Fuß vor! Zumindest erweckte sie diesen Eindruck. Starr sah ihr Kinsky eine Zeit lang zu. War sie allen Ernstes den ganzen Weg gelaufen? Ohne Scheiß? Die Haustür stand weit offen, weswegen er kurz nach seiner Frau rief.
„Susanna!“
Geschirr klimperte, als er ein Raunen als Antwort erhielt.
„Komm her und sieh dir das an.“
Er spürte, wie seine Frau kurze Zeit später an ihn herantrat. Mit dem Kopf nickte er in Richtung Reitergruppe.
„Da! Jasmin! Sie muss den ganzen Weg gelaufen sein.“
Susanna starrte nun ihrerseits auf das junge Mädchen und ihr Gesicht verriet, dass sie in etwa dasselbe dachte wie Kinsky. Es mussten etwas mehr als acht Stunden gewesen sein. Acht Stunden für ein Mädchen, deren junger Körper mehr gemartert worden war, als jener der anderen, und der man es am wenigsten zugetraut hatte, diesen Marsch durchzuhalten.
„Armes Ding“, hörte Kinsky seine Frau sagen.
„Harter Brocken!“, konterte er, wofür er einen strafenden Blick erntete.
„Und was hat sie da im Arm?“
Stefan war heran und rutschte als Erster langsam aus dem Sattel. Hinter ihm wurde nahezu um die Wette gestöhnt.
„Au, mein Arsch!“
„Ich kann nicht mehr!“
„Bitte ein Bett.“
„Meine Beine habe ich unterwegs schon verloren.“
„Ich glaub, ich bin hier angewachsen.“
„Ich kann in den nächsten tausend Jahren kein Pferd mehr sehen.“
Aber irgendwie kamen sie alle aus dem Sattel, mehr plump, wenig elegant. Edith knallte sogar der Länge nach in den Staub, da sie zu heftig vom Pferd gesprungen war, was eine Lachsalve zur Folge hatte.
Jasmin selbst trat langsam an den Anbindebalken heran und legte Toms Zügel locker um die Stange, während sie mit der anderen Hand das Kitz hielt, welches nach wie vor in ihren Armen schlief.
„Du solltest den Wildhüter anrufen!“
Kinsky wurde von Stefan aus den Gedanken gerissen, die rund um Jasmin kreisten und nicht wussten, wo er anfangen und aufhören sollte.
„Äh, wieso?“
Er deutete auf sie und schließlich auf das Kitz.
„Wir haben zwei Hirsche und drei Kühe gefunden. Erschossen. Den Hirschen hat man den Kopf abgeschnitten, den Rest liegengelassen. Auch das Kitz wurde zurückgelassen.“
„Wo?“
„Etwa zwei Stunden nördlich, knapp bei der Stelle, wo Jaro und ich vor zwei Jahren den Bären gejagt haben.“
Kinsky schüttelte verdrießlich den Kopf.
„Dann haben sie schon wieder zugeschlagen. Dan wird einen Anfall bekommen. Wird Zeit, dass er die Typen endlich erwischt, bevor sie den gesamten Wildbestand dezimieren. Vorige Woche hat er zwei tote Bären gefunden. Diese Woche mehrere Fallen entdeckt. In einer hing ein Wolf. Die Wilderer machen wirklich schon alles zu Geld, was sie bekommen können.“
Susanna war von der Veranda gestiegen und auf Jasmin zugegangen. Zart nahm sie den Kopf des Kitzes in ihre Hände und strich sanft über seine Stirn.
„Der arme Kleine!“ Vorsichtig öffnete das Tierchen die Augen und sah die Frau an. „Wird sicher Hunger haben. Wir werden ihm im Stall einen
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