Whisper (German Edition)
Platz herrichten. Ich habe noch Milchpulver da, mit dem wir zwei Schafe großgezogen haben. Die sollte es vertragen. Am besten wir versorgen ihn und dich gleich dazu. Was meinst du?“
Jasmin blickte starr zu Seite.
„Na komm schon.“
Susanna nahm sie beim Arm und führte sie in Richtung Stall.
„Stefan, du versorgst bitte Tom mit. Du findest uns im Stall. Wir haben ein Baby zu füttern.“
Sie erwartete keine Antwort, sondern schob Jasmin weiter, bugsierte sie in das Gebäude und zeigte ihr eine kleine Box, in die sie das Kitz bringen sollte. Susanna schnappte sich einen Strohballen und schüttelte das Stroh auseinander, sodass es eine weiche Unterlage bildete. Jasmin ging in die Knie und setzte das Tier ab, welches sofort auf den Beinen stand und sich schüttelte. Aufgeregt suchte es nach Jasmins Fingern und begann wieder heftig zu saugen.
„Der kleine Kerl scheint mächtig Kohldampf zu haben. Ich werde mal rein gehen und eine Flasche machen. Bin gleich wieder da.“
Susanna verließ die Box und Jasmin war mit sich allein. Endlich konnte sie sich ins Stroh fallenlassen. Ihre Beine schmerzten, ihr Rücken machte sich stark bemerkbar, ihr Schultern und Oberarme taten weh. So leicht das Kitz auch war, es fühlte sich getragen nach einiger Zeit wie ein tonnenschwerer Sack an. Beinhart hatte Jasmin durchgehalten, obwohl ihr mehr als nur einmal danach gewesen war, Stefan um Hilfe zu bitten. Aber dazu hätte sie sich bemerkbar machen müssen, und das wollte sie nicht. Jetzt, wo sie sich ausruhen konnte, wurde ihr klar, wie müde und erledigt sie war. Tom hatte sie die gesamte Zeit begleitet. Manchmal hatte er sich hinter ihr eingereiht und sie immer mal wieder mit der Nase angeschoben. Er war ein gutes Pferd und es tat ihr fast leid, dass sie ihm den Gefallen nicht gemacht hatte, seinen Rücken zu nutzen. Mehrmals hatte sie das Gefühl gehabt, er würde sie darum bitten. Aber das ging nicht. Es wäre bitterer Verrat.
Das Kitz hatte aufgehört an ihren Fingern zu saugen und versuchte auf wackeligen Beinen durch das Stroh zu gehen. Es konnte erst ein paar Tage alt sein, so klein, wie es war. Was waren das nur für Menschen, die eines Geweihes wegen töteten, einem Kitz die Mutter nahmen, und eine Familienstruktur zugrunde richteten. Man hatte die Tiere einfach bei der Äsung erschossen. Die Kühe trugen noch nicht mal eine Trophäe. Sie waren der Mordlust eines schießwütigen Jägers zum Opfer gefallen. Jasmin holte sich die Bilder in ihren Kopf zurück, als sie die toten Tiere gefunden hatte. Das leise Blöken des Kitzes war es gewesen, was sie alarmiert hatte. Das sanfte, hilflose Blöken eines verängstigten Wapitikitzes, welches schutzlos neben seiner toten Mutter verharrt hatte. Sie hatte tiefes Mitleid für die Tiere empfunden. Was machte es für einen Sinn, diese Wesen abzuknallen und einfach liegenzulassen? Und was musste in einem Menschen vorgehen, ein Muttertier zu schlachten, welches ein Baby aufzuziehen hatte? Jasmin hatte geglaubt, die Jagd zu verstehen. Man jagte, um ausufernde Bestände zu dezimieren. So, wie in ihrer Heimat. Dort gab es kaum noch Raubwild. Ja, man sprach immer mal wieder von Wölfen, Bären und Luchsen, aber das waren Einzelfälle. Tiere, die sich in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland nur so lange würden halten können, bis sie auffällig wurden. Jasmin erinnerte sich an Braunbär „Bruno“, der sich im deutsch – österreichischen Grenzgebiet aufgehalten hatte, und es durchaus als spannend und einfach angesehen hatte, sich an Weidevieh zu vergreifen. Die Tatsache, dass er sich ständig in besiedelten Bereichen aufgehalten hatte, war schließlich sein Todesurteil gewesen. Er wurde als Problembär abgeschossen. Aber war wirklich der Bär das Problem gewesen, oder war das Problem nicht eher der Mensch, der verlernt hatte, mit Mitgeschöpfen wie dem Bären umzugehen?
In der Wildnis Kanadas sollte es genug Platz geben. Und trotzdem mussten auch hier Tiere ihr Leben lassen, weil es sich Menschen eingebildet hatten, ihre Wände mit dem Geweih eines Wapitis zu schmücken. Wie viel schöner war es doch, sich das Geweih am lebenden Objekt anzusehen.
Sanft strich sie dem Kitz über den Kopf. Es war so zart und zerbrechlich und doch würde aus ihm auch irgendwann ein stattlicher Wapiti … Jasmin musste sich vergewissern, aber bei dem Kitz handelte es sich eindeutig um ein männliches Tier.
Irgendwo knallte eine Tür zu und kurz darauf erschien Susanna mit einer
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