Whisper (German Edition)
dezent ihre Brust, ihre Haare, blies ihr ins Gesicht und stupste sie sanft mit der Nase an. Dabei lehnte sie den Kopf etwas zur Seite, sodass der Blick auf ihr Auge frei wurde. Es war ihr Blick. Ihr ganz besonderer Blick. Nur der Blick dieses Pferdes würde so sein.
Vorsichtig tastete Jasmin nach diesem Wesen mit der bebenden Angst, ein Trugbild könnte gerade ihre Sinne vernebeln. Doch als sie mit zitternden Fingern die samtene Nase berührte, über das Gesicht glitt, die Stirn hinauffuhr, und die Wärme unter ihrer Haut spürte, wusste sie … kein Trugbild, keine Halluzination, keine Unwirklichkeit. Es war echt. So echt und nah ... und sie hatte es entsetzlich vermisst. Das weiche Fell, die Muskeln, die sich darunter bewegten, die Ecken und Kanten, Jasmin kannte an dem Tier alles. Jedes Haar, den Geruch, jedes Seufzen. Es war ihr vertraut, mehr noch, es war alles, was sie hatte. Tränen stiegen dem Mädchen in die Augen, als sie ihre Hände über den Hals des Tieres gleiten ließ. Tränen der Freude, des Glücks und der Herzenswärme, die ihr entgegen schlugen. In ihr entlud sich alles. Trauer, Frust, Resignation. Für Momente existierte das alles nicht mehr. Sie fühlte sich frei und erlöst, während sie noch immer vorsichtig ihre alte Freundin ertastete. Aber sie war da, sie war wirklich da.
„Oh Whisper“, rief sie nach Sekunden des Begreifens aus, griff nach der Mähne und schlang ihre Arme um den Pferdehals. Die Stute senkte ihren Kopf und ließ mit gütigem Blick zu, dass ihre kleine Freundin sich an ihren Hals klammerte, sich an sie schmiegte und den Fluss der Tränen nicht bremste. Sie fühlte die Finger, die sich in ihre Mähne krallten, und spürte mit jeder Faser ihres alten Herzens, wie sehr Jasmin sie vermisst hatte, wie sehr alles danebengegangen war, und wie unglücklich ihre kleine Freundin war, die ihr immer nur Gutes getan hatte. Jasmin hatte ihr altes Pferdeleben verschönert, ihr bei vielen Leiden geholfen, mit ihr gesprochen und sie verstanden, wenn sie nicht so konnte, wie man es von ihr verlangte. Dieses herzensgute, samtweiche Mädchen war jene gewesen, die ihre doch sehr alte Pferdeseele gestreichelt und ihr so ziemlich alles gegeben hatte, was für sie möglich gewesen war, und für die sie so gern mehr getan hätte. Aber bevor sie dazu imstande gewesen war, hatte man sie geholt …
„Whisper, wie … wie … ist das möglich? Wie … kommst du hierher? Wie …?“
Jasmin verschluckte sich nahezu an ihren eigenen Worten, schluchzte, wurde von einer weiteren Welle gepackt, umrahmte den Körper des alten Tieres und war dankbar für den tiefen Kontakt, den die Stute zu ihr herstellte.
„Sieh dich doch mal um, Jasmin.“
Die Stute, sie hatte so eine ruhige, alles verzaubernde Stimme. Jasmin verspürte die tiefe Liebe, die sie für dieses Pferd empfand. Jene Liebe, die sie beide verbunden hatte, die ... die man ihr aber verwehrt hatte, je wieder fühlen zu dürfen. Es dauerte eine Weile, bis Jasmin sich etwas beruhigt hatte, sich sanft von dem Tier löste und einen vorsichtig ängstlichen Blick um sich warf. Es stimmte. Sie befand sich mitten auf einer Wiese, die an einen Wald angrenzte, der sanfte Wind, der Duft, es war unwirklich.
„Wo sind wir?“, fragte sie deshalb mit bebender Stimme, versuchte ihre Augen etwas zu trocknen und suchte wieder nach jenem Blick der alten Stute, den nur sie haben konnte.
„Du bist in meiner Welt, Jasmin.“
Das Mädchen hielt die Luft an. Verunsicherte sah sie sich nochmal um. Das satte Grün, die hellen Farben der Blumen. War es doch nur ein Traum, der viel zu realistisch geworden war?
„Was heißt, deine Welt?“, fragte sie bebend nach, wurde wieder von der Angst erfasst, ihr schöner Augenblick könnte wie eine Seifenblase zerplatzen.
„Meine Welt ist das hier“ , antwortete die Stute. „Es ist schon eine Weile her, da bin ich über die Regenbogenbrücke gegangen. Viele meiner Freunde haben mich auf der anderen Seite empfangen und seither bin ich hier, wo es ruhig ist, wo ich alles habe, und wo ich dich beobachten kann.“
„Mich beobachten?“ Jasmin nahm den Kopf der Stute in ihrem Arm und streichelte ihn sanft.
„Ja, denn diese Welt ist nicht deine. Ich wollte sie dir nur zeigen, damit du weißt, wie glücklich ich hier bin. Aber du bist nicht glücklich in deiner Welt. Du bist einsam, allein, und mit deinem Herzen und deiner Seele zu viel bei mir. Es gibt dort, wo du verweilst, so viele, die deine Hilfe brauchen, die dich
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