Whisper (German Edition)
Westernsattels fest, während er den anderen einfach hängen ließ. Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, tat Jasmin es ihm nach. Die beiden Pferde hatten es nicht wirklich eilig, sondern begannen zu grasen, ohne sich weiter stören zu lassen. Kino nahm Jasmin bei der Hand und zog sie einige Felsen hinauf, zwischen denen immer wieder die urtümlichsten Pflanzen wuchsen. Sie kletterten über verschnörkelte Gebilde, schoben sich durch wild durcheinander wachsende Büsche, und ließen sich auch vom lockeren Erdreich nicht aufhalten. Kino war zielstrebig. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte. Etwas weiter oben, die beiden schnauften bereits heftig, nahm Kino Jasmin einmal mehr bei der Hand, führte sie über eine kleine Ebene, bis er an dessen Rand stehen blieb. Vor ihnen schien das Naturbildnis einfach abzubrechen und gab den Blick auf ein Tal frei, welches sich wie eine zweite Welt auftat, und von den Blicken der beiden junge Leute eingefangen wurde. Sie standen so hoch oben, dass sie auf einige Wolken sehen konnten, die unter ihnen, wie von Geisterhand gehalten, durch die Luft schwebten. Sie machten den Eindruck, als würden sie auf die Baumwipfel zutreiben, und es bedurfte nur ein wenig Fantasie, um sich vorzustellen, wie die watteähnlichen Gebilde in den Ästen hängenblieben. Der Wald erstreckte sich über den Berghang, auf dem sie standen, talwärts, ließ in der Mitte ein Stück Waldwiese frei, die klitzeklein aussah, aber vermutlich mächtig groß war, um auf der anderen Seite wieder anzusteigen, und dort wieder mit dem Berg verschmolz. Die Strahlen der Sonne züngelten über dieses Naturerlebnis, als ob sie es kosten wollte, und verursachte dadurch ein Farbenspiel, das man kaum in Worte fassen konnte. Jasmin war von dem Anblick überwältigt und beeindruckt zugleich. Es nahm sie in einer gewissen Form gefangen. Diese unberührte Weite, dieses Sein der Natur ohne menschlichen Zugriff, eine Welt, fern jeder Hektik, jeder Veränderung, jedes Gedankens an Schule, Lernstoff, Eltern, Berufswünschen, Gesetzen und Regeln. Fern allem, was einem sagte, wie man zu sein hatte. Jasmin genoss dieses Gefühl eins zu sein, mit dem was sich ihr bot. Sie fühlte eine tiefe Verbundenheit mit der Wildnis, gekoppelt mit dem Wunsch, diese niemals zu zerstören, sondern über sie zu wachen, sie zu respektieren und zu versuchen, Mutter Natur hier als Lehrer zu sehen. Die Kraft der Wildnis übte im Augenblick derart viel Macht auf sie aus, dass es kaum zu ertragen war. Jasmin dachte an ihre Heimat. An all die Häuser, die Baulichkeiten, den Asphalt, den Beton, an große Straßen, die die Landschaft durchpflügten, an all die Menschenmassen, die ihren Dreck hinterließen, an die Zerstörung, die schon bei einem selbst anfing. Unweigerlich fasste sich Jasmin ins Gesicht und berührte ihre Narben. Es war die blanke Zerstörung gewesen. Ähnlich musste die Natur sich fühlen, wenn man sie auf einmal zerschnitt, eine Schneise der Verwüstung in sie grub, und es hinterher Autobahn nannte. Ihr wurde so sehr klar, dass Gewalt nicht nur damit anfing, dass jemand die Hand gegen einen anderen hob, sondern dass sie dort begann, wo man egoistischer Weise Grund und Boden für seine Bedürfnisse nutzte und das zerstörte, was dort lebte. Wo man hirnlos konsumierte, ohne darüber nachzudenken, welche Zerstörung der gesamte Müll anrichtete, mit dem man das überhäufte, was man hier Wildnis nannte. Jasmin stand wie betäubt vor dem Bild, das ihr so viel gab. Sie erinnerte sich an die vielen Dinge, die man sie in der Schule gelehrt hatte. Die Aufsätze, die sie geschrieben hatte, die Formeln, die sie erlernen musste, um die unwirklichsten Aufgaben zu errechnen, die vielen Dinge, die sie auswendig gelernt hatte, um später ihr Leben meistern zu können. Aber das hier hatte ihr niemand gezeigt, es erwähnt oder ihr beigebracht, wie es war, wenn man etwas Heiles vor sich sah, was in ihrem Land schon nicht mehr existierte.
„Ich komme öfter im Jahr hierher, nicht nur, weil mir der Platz gut gefällt, sondern weil ich hier spüre, warum ich lebe.“
Kino war dicht an sie herangetreten, hatte zuerst ihre Haare aus dem Nacken gestrichen und dann seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Weich hatte er sie an sich herangezogen und genoss das Gefühl, ihr ein wenig von dem geben zu können, was ihn selbst stark beeinflusste und berührte. Dass es auch sie fesselte, erkannte er, als sie vorsichtig nach ihren Narben griff und diese kurz befühlte.
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