Whisper (German Edition)
Verletzungen, die nicht nur ihr Äußeres, sondern auch ihr Inneres so sehr verletzt hatten, dass es sie bestimmte, ihr Verhalten steuerte und ihr das Gefühl gaben, nicht nur anders, sondern einfach nur noch „nichts“ zu sein.
„Ich war bisher immer allein hier.“ Kinos Stimme war leise geworden, als ob er Angst hätte, zu viel zu sagen. „Du bist die Erste, die ich mitgenommen habe. Ich glaube, wenn einer weiß, was es heißt zu leben oder nur noch zu existieren, dann bist das du.“
Er streichelte sanft über ihren Rücken, nahm sie beim Arm und forderte sie auf, sich mit ihm auf die Felsen zu setzen. Jasmin ließ sich nach unten ziehen, doch anstatt ihr einfach zu gestattet, sich neben ihn zu setzen, zog Kino sie zu sich heran, sodass sie dicht an seinem Körper zum Sitzen kam. Sein kompletter Arm umrahmte sie, sodass er nach ihrer Hand greifen konnte, und dabei mehr durch Zufall den Ärmel etwas hochstreifte, wodurch die Narben an ihrem Arm sichtbar wurden. Verletzungen, die für sie ein schweres Heben unmöglich machten.
Jasmin reagierte schnell, wollte sie verdecken, doch diesmal hielt Kino sie auf.
„Weiß Whisper davon?“
Jasmin stockte kurz, warf ihm einen Blick zu, verzichtete aber dann darauf, sich weiter zu wehren. Sie schloss lediglich ihre Hand zu einer Faust und spannte sich etwas, als Zeichen dafür, dass ihr diese Entblößung unangenehm war. Whispers Name war es, der sie ablenkte, der ihren Blick in die Ferne trug, und der schöne Erinnerungen wachrief und ein Lächeln in ihrem Gesicht erzeugte. Kino schob dieses Leuchten in ihrem Antlitz ein wenig auf den Ort, an dem sie sich befanden. Er vermittelte Ruhe und Frieden, ließ nichts Böses zu, was sich in Jasmins Gesicht widerspiegelte. Schlechte Gedanken wurden vernichtet und es bewies ihm, dass Jasmin mit Whisper viele schöne Momente erlebt hatte, und diese Erinnerungen lebten im Augenblick auf.
„Ich weiß, dass Whisper heute zu dir gesprochen hat!“ Kino betrat äußerst dünnes Eis. Whisper lebte nicht mehr, das war ihm klar. Und Tote sprachen nicht, sagte man. Tiere sprachen schon mal gar nicht, sagte man auch. Erlebte man diese Dinge anders und erzählte man davon, wurden einem nicht geglaubt, denn es gab sie nicht … sagte man ebenso. Es war nicht erwiesen, war nicht belegt, nicht wissenschaftlich erkundet, besaß keine Formel. Brauchte man das? War das wichtig?
„Whisper hat auch zu mir gesprochen.“ Er war immer leiser geworden, streichelte unbewusst ihre Hand, an die sie gar nicht mehr dachte, und fing ihren Blick ein, der sagte, dass sie überlegte, wie weit sie ihm Glauben schenken durfte, und wie weit er nur so tat als ob. Kino tat nicht nur so. Er wusste genau, wovon er sprach. Für ihn war nicht wichtig, was man sagte, was man glauben durfte und was es nachweislich geben konnte. Für ihn war wichtig, für was er offen, und was ihm erlaubt war, zu sehen und zu hören. Und das war viel. Jasmin und Whisper waren verbunden durch das tiefe Band der Liebe, welches selbst der Tod nicht zerstört hatte. Whisper wachte über ihre kleine Freundin, versuchte ihr zu helfen, so gut sie konnte, aber ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Deswegen jene Worte, die er gehört hatte. Ich lege meine Liebe zu ihr in deine Hände. Für ihn gab es Möglichkeiten, die Whisper verschlossen blieben und sie hatte erkannt, dass er derjenige war, der Zugang zu Jasmin hatte. Auch, weil er eben glaubte, wenn Whispers Seele zu ihr sprach. Er würde es nicht belächeln.
Jasmin bewegte sich etwas, öffnete ihre Faust und schloss sie ein weiteres Mal, senkte leicht den Kopf, wobei ihre Haare nach vorne fielen. Sie schluckte zwei – dreimal relativ deutlich, öffnete den Mund, um ihn dann wieder zu schließen, ohne etwas zu sagen. Kino spürte, wie sie sanft durchatmete, kurz den Kopf hob und einen weiteren Blick über das Tal warf, welches in seiner wunderbaren Weise vor ihr lag.
„Was … was hat sie gesagt?“
Kino blieb ganz ruhig und das kostete ihn ein undefinierbares Ausmaß an Beherrschung. Sein Herz setzte mindestens zwei Schläge aus, seine Atmung wurde unregelmäßig, seine Eingeweide verknoteten sich, und in seinem Kopf formulierte sich der Satz, „ Sie spricht, sie hat verdammt nochmal zu mir gesprochen.“
Es kostete ihn nochmals Mühe, seine Eingeweide wieder zu entknoten und dem Atmungsorgan wieder den Befehl „Normaldurchlauf“ zu geben. Jasmins Stimme war hell, fein, glockenklar. Bisher hatte sie nur zu ihm geflüstert.
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