Whisper Island (01) - Sturmwarnung
Sandalen. Immer, wenn sie ihn morgens traf, drehte sich sein Flüstern allein um die Cartwrights. Wenn er nicht über Hayley nachgrübelte, dachte er über ihren Vater nach, über ihre Mutter oder über ihren Geländewagen. Als ob er wüsste, dass Becca seine Gedanken lesen konnte, und deshalb absichtlich an etwas Unverfängliches dachte.
Wenigstens hatte er es geschafft, ihre restlichen Sachen aus dem Motel zu holen. Er erzählte ihr, er habe sich so lange in der christlichen Mission auf der anderen Straßenseite aufgehalten, bis Debbie zu einem ihrer Treffen gegangen war. Dann habe er sich in Beccas Zimmer geschlichen und alles eingepackt, was er finden konnte. Er hatte sogar ihr Fahrrad mitgenommen, das sie im Keller vom Dog House versteckt hatten. Nur für alle Fälle, hatte er gesagt.
Mit dem Fahrrad konnte Becca ihren Sorgen entfliehen und sich ablenken. Davon, dass sie nichts von ihrer Mutter gehört hatte, und von der Angst, dass Jeff Corrie in der Stadt auftauchen oder der Sheriff beim Dog House herumschnüffeln könnte. Immer, wenn sie die Einsamkeit und die muffige Luft in der verkommenen alten Kneipe nicht mehr aushielt, schlich sie sich für eine Stunde nach draußen und fuhr mit dem Rad zum Friedhof von Langley. Dort fand sie ein wenig Trost, indem sie Reese Grieders Grab herrichtete.
Becca war gerade dabei, als sie Diana Kinsale wiedersah. Sie war auf den Knien und säuberte den Grabstein, als sie diesmal ihren Wagen herannahen hörte. Dianas Hunde kamen sofort angelaufen und umzingelten sie. Becca ärgerte sich schwarz, dass sie nicht im Dog House geblieben war, und hoffte inständig, dass Diana nicht mitbekommen hatte, dass sie aus dem Cliff Motel weggelaufen war.
Diana hatte an ihrem üblichen Platz geparkt, ganz in der Nähe des Grabes ihres Mannes, aber diesmal blieb sie nicht dort, sondern überquerte den Rasen und kam direkt auf Becca zu. In der Hand trug sie einen Beutel.
Die Hunde sprangen herum, schnüffelten und hoben ihr Bein an den Büschen. Becca warnte sie: »Wehe, ihr pinkelt auf das Grab«, und sie hörte, wie Diana gutmütig lachte.
Doch dann hörte Becca noch mehr. Kannst du hören, was ich denke, Becca King?, drang ganz deutlich an ihr Ohr, und zwar genauso deutlich, wie sie das Gedicht ihrer Mutter immer hörte: Hört her meine Kinder und gebt gut acht auf Paul Reveres Ritt durch die dunkle Nacht.
Becca hielt inne und schluckte schwer, sie war zu Tode erschrocken. In diesem Augenblick gingen ihr viele Gedanken durch den Kopf, aber zuallererst musste sie an Jeff Corrie denken und was es für Folgen gehabt hatte, dass neben ihrer Mutter und Großmutter noch jemand anders von ihrer Gabe erfahren hatte.
»Hi«, sagte sie also so fröhlich, wie sie nur konnte, und fuhr fort, Reeses Grabstein zu säubern.
Und als wäre nichts gewesen, antwortete Diana: »Wusste ich doch, dass ich dich hier finde. Ich hab dir was mitgebracht.«
Sie hielt ihr den Beutel hin und Becca sah hinein. Darin lag die AUD-Box mitsamt dem Kopfhörer. Beides funktionierte wieder. Sie war unglaublich erleichtert und fragte: »Wer hat sie repariert?«
»Ralph Darrow. Seths Großvater. Der Mann kriegt alles wieder hin.« Diana lächelte und ergänzte: »Alles, außer gebrochenen Herzen.«
Sie stellte sich neben Becca und schaute auf Reeses Grab hinunter. »Das hast du schön gemacht. Jetzt brauchst du nur noch ein neues Foto von ihr.« Sie ging auf die andere Seite des Grabes, um Becca gegenüberzustehen. »Debbie macht sich Sorgen um dich, Becca. Sie hat mich angerufen.«
Becca sagte nichts und überlegte, was sie am besten darauf antworten könnte.
»Warum bist du bloß aus dem Motel weg?«
»Weil es Zeit war.«
»Geht Debbie immer noch zu ihren Treffen?«
Komische Frage, dachte Becca, sagte aber: »Ich denke schon.«
»Dann ist ja gut.« Diana hockte sich hin und fegte das frisch gefallene Laub vom Grab herunter auf die Seite. »Du fehlst ihr. Und den Kindern. Für Josh ist es doppelt schwer, weil Derric im Krankenhaus liegt.«
Der Gedanke an Chloe und Josh versetzte Becca einen Stich ins Herz. »Wie geht es ihnen?«
»Gut. Wenn Debbie da ist.«
»Wieso? Geht sie denn manchmal weg und lässt sie allein?«
»Nein. Aber manchmal ist man körperlich anwesend, aber mit dem Herzen ganz woanders.«
»Oh.« Becca wusste, dass ihre Stimme genauso schuldbewusst klang, wie sie sich fühlte. Chloe und Josh war es besser gegangen, als sie bei ihnen war, das wusste sie.
Als hätte sie gehört, was Becca
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