Whisper Island (01) - Sturmwarnung
andere als der Wahrheit entsprach. Denn während die Jungs sich so schnell wie möglich aus dem Staub machten, sah Becca etwas, das ihr den Atem verschlug. Dylan trug genau die gleichen Sandalen wie Seth.
Becca hatte keine Zeit, über diese Entdeckung nachzudenken, weil der Musiklehrer neben ihr stand und darauf wartete, dass sie etwas sagte. Deshalb bedankte sie sich und schnappte sich Jenns Klemmbrett und ihren eigenen Rucksack. Sie betrat die Mädchentoilette, um Jenn zu suchen.
Diese war über eines der Waschbecken gebeugt. Sie wirbelte blitzschnell herum. Sie weinte und Becca spürte sofort, dass das nichts Gutes verhieß. Ein knallhartes Mädchen wie Jenn McDaniels und weinen? Jetzt konnte alles nur noch schlimmer werden.
Sie war nicht sicher, wie sie die Sache angehen sollte, aber das spielte keine Rolle. Jenn sprach zuerst.
»Was willst du?«, fauchte sie. »Warum verfolgst du mich? Mein Gott, du bist so eine erbärmliche Niete, mit deiner hässlichen Brille und deinen bescheuert gefärbten Haaren. Du gehörst hier nicht hin. Du wirst hier nie dazugehören. Warum bist du überhaupt hierhergekommen?«
Die Wucht, mit der Jenn ihr diese Worte entgegenschleuderte, hielt Becca davon ab, ihr zu sagen, was sie wusste: über Dylan, über seine Sandalen, über den Wald und den Fußabdruck, den sie gesehen hatte, und über die Saratoga Woods selbst. Daher hielt sie Jenn lediglich das Klemmbrett hin. Aber Jenn nahm es nicht an.
»Was?«, schrie Jenn. » Was? Glaubst du etwa, ich brauche dich, um mich zu verteidigen? Lass mich in Ruhe. Du mischst dich überall ein, obwohl niemand irgendwas mit dir zu tun haben will. Kapierst du’s nicht, Fettkloß?«
Becca legte das Klemmbrett auf den Boden. Sie wusste, das Beste war jetzt, zu gehen. Aber Jenn hatte andere Pläne. Als Becca sich zum Gehen wandte, eilte Jenn um sie herum und pflanzte sich breitbeinig vor ihr auf.
»Warum verfolgst du mich? Was willst du? Ich weiß, was du da versuchst abzuziehen. Das ist nur allzu offensichtlich.«
Becca zog die Augenbrauen zusammen. Endlich konnte sie wieder sprechen. »Ich verstehe nicht …«
»Na klar. Du verstehst es nicht. Du gehst nur dorthin und liest ihm aus deinem bescheuerten Buch vor und tust so, als würdest du gar nicht versuchen, mit ihm ins Bett zu steigen. Dabei wissen wir beide , dass es dir nur darum geht, oder?«
»Das ist nicht …« Becca wich langsam zurück.
Das war offensichtlich genau das, was Jenn wollte. Sie schubste sie, schnappte sich Beccas Rucksack und fing an, darin herumzuwühlen. »Wo ist es? Wo ist dieses bescheuerte Buch?«, schrie sie und kippte den Inhalt des Rucksacks auf den Boden.
»Welches Buch?«
»Ach, komm. Du weißt genau, wovon ich rede. Du stellst dich dumm, aber das ist alles nur Theater. Sobald du die Chance hast …«
»Du spinnst doch«, sagte Becca. Sie beugte sich vor, um ihre Sachen einzusammeln.
Jenn schubste sie noch einmal. Becca verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Der Kopfhörer ihrer AUD-Box rutschte ihr aus dem Ohr und auf den Boden. Jenn schnappte ihn sich und riss so fest daran, dass die AUD-Box gleich hinterherkam. Jenn schleuderte sie voller Gehässigkeit an die gegenüberliegende Wand.
»Du bist so eine Loserin!«, kreischte sie. »Du und deine Bücher und deine Musik und dein … dein …« Tränen schossen ihr in die Augen und sie rannte aus dem Raum.
K APITEL 27
Becca schaffte es, wenn auch mit Mühe, den Rest des Schultages hinter sich zu bringen. Als sie die AUD-Box aufhob, stellte sie fest, dass diese stark beschädigt war. Sie war nicht völlig kaputt, funktionierte aber nicht mehr richtig. Das Rauschen war nur noch mit Unterbrechungen zu hören.
Sobald der Unterricht aus war, steckte sie die defekte AUD-Box in ihren Rucksack und verließ die Schule so schnell sie konnte. Sie wusste, dass sie ohne die Box Probleme haben würde, denn sowohl während der Mathe- als auch in ihrer Jahrbuchstunde hatte so viel Geflüster in der Luft gelegen, dass sie sich nur mit Mühe auf den Lehrer hatte konzentrieren können.
Jetzt verstand Becca auch, warum ihre Großmutter immer »Friedhofszeit« gerufen hatte, wenn sie sich als kleines Kind schreiend die Ohren zugehalten und den Kopf gegen die Wand geschlagen hatte.
Becca wusste also, wohin sie gehen musste, um in Ruhe darüber nachdenken zu können, was sie jetzt, da die AUD-Box nicht mehr richtig funktionierte, tun sollte. Sie nahm ihr Rad und machte sich die Maxwelton Road entlang auf den Weg zur
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