White Horse
Strom kommt und geht nach Belieben und mit ihm das Fernsehen, das uns mit
Neuigkeiten versorgt. Neu ist neu. Neu ist anders. Neu ist glänzend. Neu bedeutet,
dass es noch Leben gibt.
Eine Familie kommt, ebenfalls von der NordstraÃe her. Die Leute
gehen Hand in Hand, als könnte der leiseste Hauch ihren fragilen Zusammenhalt
zerstören. Ihre Schritte sind nicht zu hören, aber sie tun mir den Gefallen und
hüsteln höflich, als sie sich nähern. Ich richte mich aus meiner Hockstellung
auf und schüttle die Taubheit aus den Beinen. Mit dem Handrücken wische ich mir
Colaschaum von den rissigen Lippen.
Die Männer haben ihre drei Kinder in die Mitte genommen. Irgendwie
erinnern sie an Buchstützen. Sie bleiben auf dem Bürgersteig stehen und
überfallen mich mit Fragen.
»Wir waren noch nie in dieser Gegend«, sagt einer. »Wir hatten es
immer vor, aber irgendwie klappte es nie.«
»Aber jetzt sind wir hier«, wirft der andere ein. »Was kann man hier
so machen?«
AuÃer auf den Tod zu warten oder um sein Leben zu kämpfen? Ich
verkneife mir diese Worte, um den Kindern keine Angst einzujagen. Aber die
Männer wissen es ohnehin; die harte Wahrheit lässt sich von ihrer Haltung
ablesen.
»Nicht viel«, sage ich. »Wir haben eine gute Bibliothek und ein
groÃartiges Museum.«
Ich bin eine Fremdenführerin, die ihre tote Stadt anpreist.
»Kann man hier irgendwo essen? Und kennen Sie eine vernünftige
Ãbernachtungsmöglichkeit?«
»Wenn Sie uns den Weg erklären, finden wir sicher alleine hin.«
Ich spule die Richtungen herunter, aber sie starren mich
verständnislos an, weil alles, was für mich langweiliger Alltag ist, ihnen
glänzend und neu erscheint. Also biete ich ihnen an, sie ein Stück zu begleiten
und ihnen die noch vorhandenen Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Als sich unsere
Wege trennen, drücken sie mir einen Papierumschlag in die Hand.
»Das ist alles, was wir haben«, sagen sie. »Wertlos im Moment. Aber
eines Tages vielleicht â¦Â«
Eintrittskarten für Disney World, den glücklichsten Ort auf Erden.
»Eine gute Reise«, wünsche ich ihnen, bevor ich mich verabschiede.
In der alten Schule befindet sich ein langer, düsterer Flur.
Nick steht an einem Ende, Mordlust wie Blut über das ganze Gesicht verschmiert.
Ich dagegen, am anderen Ende, habe eine Maske der Gleichgültigkeit aufgesetzt.
Zwischen uns befindet sich eine Tür, die in eine Kaffeeküche führt. Wir streben
beide dorthin: Nick mit langen, wütenden Schritten; ich im lässigen
Schlendergang.
»Ich weiÃ, warum du sauer bist«, sage ich, als wir zusammentreffen.
»Tu so etwas nie wieder!«
»Ich werde tun und lassen, was ich für notwendig halte.«
»Du opferst dich für andere Leute!«
Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu, als sei er der Teufel
selbst, der um einen letzten Tanz bittet.
»Es war die richtige Entscheidung.«
»Quatsch. Man hätte dich vergewaltigen, niederschlagen, umbringen,
in die Sklaverei verkaufen können. Man hätte dir tausend andere Dinge antun
können.«
»Ich habe viele Schwachstellen, Nick, aber Dummheit gehört nicht
dazu. Das waren anständige Leute. Ich will meine Menschlichkeit nicht
verlieren.« Ich wende mich von ihm ab und strebe in Richtung Kaffee, aber er
packt mich am Pferdeschwanz und wirbelt mich hart herum. Sein Daumen streicht
über mein Schlüsselbein. Wärme strahlt von dem winzigen Punkt aus, bis ich ein
loderndes Feuer in einer dunklen Nacht bin.
»Ich will dich.«
»Zieh mich nie wieder so an den Haaren!« Mein Protest wird von einem
dichten Nebel der Lust fast erstickt.
»Das kann ich dir nicht versprechen.« Seine Augen funkeln
verheiÃungsvoll. »Aber das nächste Mal wird es dir gefallen.«
ZEIT: JETZT
Es ist Nacht, als sich das Beben aus der Tiefe Bahn
bricht. Die Erde krampft und bäumt sich auf. Speit Kiesfontänen und
Felsbrocken.
Das ist es â das Geheimnis, das die Tiere hüteten.
Keine der üblichen Verhaltensregeln haben hier Gültigkeit. Es gibt
keine Badezimmer, in die man flüchten und keine Tische, unter denen man Schutz
suchen kann. Es gibt keine massiven Türstöcke oder robuste Dachbalken, nur
Behelfsbaracken, die davonfliegen wie eine Wolke Haarspray, weil die dünnen
Wellblechwände keine Verankerung im Boden besitzen.
Ich
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