White Horse
noch drei erhalten sind â, aber wir begnügten uns damit, die
Zeugnisse der Vergangenheit aus der Ferne zu bewundern.
Ich bin in einer Déjà -vu-Schleife gefangen. Nur die Kulisse ändert
sich, aber die Gefahren und die Reaktionen, die sie begleiten, sind die
gleichen. Etwas folgt mir, jemand verschwindet, und ich hetze hinterher, komme
aber wieder zu spät, um einzugreifen. In Wahrheit deutet nichts darauf hin,
dass Irini in Schwierigkeiten steckt. Ich sehe keine Kampfspuren, und ich habe
keine Hilferufe gehört. Aber meine Intuition träufelt mir ihr Gift ein, und ich
setze mich nicht dagegen zur Wehr.
Die Ruinen erheben sich hoch und stolz und hell im gleiÃenden
Morgenlicht. Ein Geräusch sickert zwischen den Felsen hervor und schwappt in
den Sonnenschein. Anfangs denke ich, es ist Irini, die Selbstgespräche führt,
doch dann unterscheide ich zwei Stimmen: Irinis mitunter stockenden Singsang
und einen härteren, rauen Tonfall, der gegen sich selbst ankämpft.
Geh. Bleib. Geh. Bleib. Schritt vor,
Schritt zurück. Dann wird die Entscheidung für mich getroffen.
»Komm«, sagt die raue Stimme. »Ich weiÃ, dass du da bist.«
Ich bewege mich wie in einem Traum.
»Näher. Ich will dich sehen.«
Ich biege um eine Ecke. Folge dem Heiligen Weg, bis ich den
Polygonalen Wall erblicke. Dann bleibe ich stehen, weil ein Felsen in den Weg
ragt und mein Verstand nicht sofort begreift, was er da sieht. Ja, es ist ein
seltsamer, fahler Felsen, aber mit einem Menschen in seinem Zentrum. Arme und
Beine ragen aus dem Innern des Felsblocks, hängen da wie Wäsche in der Sonne.
Ãber den nutzlosen GliedmaÃen erhebt sich ein Frauenkopf, das Haar zu einem
lockeren Knoten aufgesteckt, die Augen scharf und durchdringend, als
durchschaute sie alles. Eine Ranke kriecht bis zu ihrer Mitte hoch und umwindet
sie wie ein breiter grüner Gürtel. Sie ist älter als Irini, aber ihre Augen
haben die gleiche Haselnussfarbe und ihre Nasen die gleiche Krümmung.
Jenny, die leblos auf dem Gehsteig liegt, ein
rotes Loch in der Stirn. Das Loch in meiner Seele weitet sich.
»Es ist wahr«, sagt sie in unsicherem Englisch. »Du erwartest ein
Kind.«
Meine Hände streichen über meinen Bauch. »Ja.«
»Komm her.«
»Nein.«
»Du traust den Menschen nicht?«
»Nicht mehr. Nicht jetzt.«
Sie nickt. »Warum bist du hier heraufgekommen?«
»Weil ich Irini suchte.«
»Und was hättest du getan, wenn sie in Gefahr gewesen wäre? Hättest
du dein und das Leben deines ungeborenen Kindes aufs Spiel gesetzt, um sie zu
retten?«
»Das Leben meines Kindes war vom ersten Tag an bedroht.«
»Irini sagt mir, dass du deinen Mann suchst.«
Ich kläre den Irrtum nicht auf. »Ja.«
»Du bist um die halbe Welt gereist, von Amerika bis hierher, um
diesen Mann zu finden?«
»Ja.«
»Wie viele Frauen würden so etwas auf sich nehmen? Wenn unsere Welt
nicht tot wäre, würden sie Gesänge über dich schreiben â lange, weitverzweigte
Balladen, voll von Halbwahrheiten, die sich alle um einen harten Kern drehen:
Du gehörst zu den Helden.«
»Helden sterben.«
»Wir sterben alle. Aber Helden sterben ruhmreich, für Dinge, die
gröÃer sind als sie selbst.« Sie wendet sich Irini zu. »Wasser, bitte.«
Irini hält eine Flasche an die Lippen der Frau und kippt sie
langsam. Sie sind geübt darin, das sieht man.
»Was ist geschehen?«, erkundige ich mich. »Kann man dich da
herausholen? Es muss doch hier irgendwo Werkzeug geben.«
Ihr Lachen ist mehr ein Keuchen als Heiterkeit. »Das hier ist kein
Felsen. Das ist Bein.«
Der Schock raubt mir die Worte. Ich bin so verlegen, dass mir
Schamröte in die Wangen steigt.
»Ich hatte ein Leiden, das meinen Körper nach Auskunft der Fachleute
in Stein verwandelte. Die Gewebe, die Knochen, alles verschmolz und versteifte
sich. Aber der Prozess verlief langsam. Dann kam diese Seuche, und mein eigenes
Skelett begann mich zu verzehren.« Wieder das Keuchen. »Meine Schwester wurde
zu Medusa und ich zu einem Teil der Landschaft.«
»Warum hier? Warum nicht näher an einer geschützten Stelle?«
»Ich liebe die Aussicht. Sie gibt mir das Gefühl, frei zu sein.«
Die ganze Welt hat sich in ein Haus der Schrecken verwandelt. Frauen
mit Schlangenhaaren oder zu Bein erstarrt, Männer mit Tierschweif,
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