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White Horse

White Horse

Titel: White Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Adams
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neue Welt, in der unsichtbare Hände an
Vorhängen zupfen und unsichtbare Geschöpfe umherschleichen. Ich habe meine
Pistole. Ich habe Kugeln. Oder Patronen. Wie immer man das Zeug nennt. Ich bin
nicht im Schießen geübt. Alles, was ich weiß – und wissen muss –, ist, wie man
eine Waffe lädt und abdrückt.
    Als ich das letzte Mal durch die Straßen fuhr, saß ich am Steuer von
Jennys Wagen. Das war auch das letzte Mal, dass ich meine Eltern lebend sah.
Vielleicht sind sie noch da. Der Gedanke füllt mich wie Helium, und ich trete
kräftiger in die Pedale, um mein Ziel möglichst rasch zu erreichen. Bevor eine
große Nadel den Ballon der Hoffnung zum Platzen bringt.
    Es ist fast wie in alten Zeiten. Ich rolle im Leerlauf aus und lasse
das Rad einfach ins Gras fallen, aber diesmal renne ich nicht zur Haustür.
Morris bremst, stemmt beide Füße in den Rasen und bleibt auf dem Sattel sitzen.
Langsam kippt sie das Rad neben meines, steigt ab und zieht ihre Waffe.
    Ich komme gut vorbereitet. Ich habe Schlüssel.
    Der Gestank trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich stolpere
rückwärts gegen meine Freundin.
    Â»Himmel«, murmelt sie. »An den Geruch werde ich mich nie gewöhnen.
Bei dir alles klar?«
    Ich sehe sie nur an.
    Â»Blöde Frage, ich weiß.« Ihre Stimme klingt leise und sanft. »Wir
wollen nichts überstürzen. Wo ist der Affe?«
    Ich halte mir die Nase zu und verdränge den Gedanken, dass dieser
Geruch wahrscheinlich alles ist, was ich von meinen Eltern vorfinden werde.
Morris klopft mir auf den Rücken.
    Â»Ich bin okay. Er wird im Speicher sein. Dort haben sie unsere
Spielsachen in Schachteln aufbewahrt.«
    Die Luft ist abgestanden und die Stille betäubend. Jemand, der mit
Elektrizität aufgewachsen ist, merkt gar nicht, welchen Lärm sie verursacht.
Alles ist wie immer. Das Wohnzimmer wirkt aufgeräumt, wenngleich sich eine
Staubschicht auf dem Sofa mit dem Rosenmuster abgelagert hat. In der Küche
steht nichts herum; auch das Spülbecken ist leer. Die Betten sind gemacht, und
in den Bädern hat sich keine Spur von Schimmel gebildet. Mom hat geputzt, bevor …
    Â»Da oben.« Ich deute auf die Falltür in der Flurdecke. Das
Kunststoffseil hängt so weit herunter, dass ich es gut zu fassen bekomme. Wir
steigen hinauf in das Halbdunkel. Sonnenstrahlen sickern durch die winzigen,
rußgeschwärzten Fenster. Staubkörnchen tanzen ziellos in den Lichtbahnen.
    Morris hustet.
    Meine ganze Kindheit ist hier oben, verpackt in säuberlich
beschrifteten Kartons. Eine Seite gehört Jenny, die andere mir. Leichter
auseinanderzuhalten, sagte Mom immer. Wenn ihr mal selbst Kinder habt.
    Meine Augen brennen, und ich kämpfe gegen die Tränen. Um sie zu
vertreiben, täusche ich einen Hustenanfall vor.
    Â»Am liebsten würde ich alles mitnehmen«, sage ich.
    Morris lacht trocken. »Dafür bräuchtest du einen Umzugswagen.«
    Sie hat recht. Hier oben stapeln sich Berge von Kartons.
    Â»Vielleicht später mal«, meint sie.
    Â»Vielleicht.«
    Wir machen uns an die Arbeit. Ich halte mich nicht mit alten Fotos
auf. Die Alben mit den dick gepolsterten Deckeln bewahren Bilder von
glücklichen Menschen, die ich kaum wiedererkenne. Ich hege meine Zweifel, dass
es die Zeit, aus der sie stammen, jemals gab. Vielleicht ist die Vergangenheit
nur ein Märchen, das wir uns immer wieder erzählen, bis wir glauben, dass es
wahr ist.
    Ich finde Feeney in einer Schachtel mit anderen alten Spielsachen
und nehme ihn für mein Kind in Besitz.
    Bevor ich wieder nach draußen gehe, muss ich das Unausweichliche
tun. Ich suche die Toilette auf. Starre die Falltür im Boden an.
    Sie ist fest verschlossen.
    Ich frage mich, wer von den Nachbarn lange genug durchhielt, um den
Riegel vorzuschieben.
    Morris niest. »Eine Allergie«, sagt sie.

    Es ist keine Allergie. Morris weiß es, und ich weiß es. Aber
keine von uns will den richtigen Schluss ziehen. Wir gehen gerade durch den
Flur der alten Schule, als sie einen Schwall Blut erbricht.
    Im nächsten Moment zieht sie ihre Pistole, schiebt sich die Mündung
zwischen die Zähne und drückt ab. Einfach so. Blut und Hirnmasse spritzt an die
Wand.
    Die Stimmen sind weit weg, am Ende eines langen, dunklen Tunnels.
Aber sie kommen näher. Näher. Näher. Näher. Bis sie vor meinem Gesicht sind,
mich anschreien. Hände

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