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White Horse

White Horse

Titel: White Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Adams
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versuchen mich von Tara Morris wegzuziehen. Erst da
merke ich, dass ich am Boden knie, sie in meinen Armen halte und eine Hand
gegen ihre Wunde presse. Der Film von Jennys Mord läuft noch einmal ab.
    Â»Rührt mich nicht an!«, schreie ich, aber die Hände zerren an mir,
bis ich loslassen muss. Ein wildes Schluchzen schnürt mir die Kehle zu. Ich
kann nicht sprechen, nur wimmern wie ein Tier. »Nein. Nein.«
    Dann zerbricht etwas in mir – vielleicht mein Verstand, der sich in
zwei Kammern aufspaltet. In einer davon verschließt er das Leid und das
Entsetzen wie in einem Stahltresor, um es dort aufzubewahren, bis ich wieder in
der Lage bin, das alles zu bewältigen. Plötzlich blicke ich auf die Tote herab,
nicht ungerührt, aber wie durch einen Kälteschleier. Losgelöst. Nicht mehr Teil
des Geschehens. Überhaupt nicht mehr Teil des Geschehens.
    Â»Wir müssen hier sauber machen«, sage ich.
    Ich gehe mit ruhigen Schritten in Richtung Besenkammer. Hole Eimer
und Wischmopp. Beseitige die Ferkelei, die Morris angerichtet hat.

    Ich halte die Streichholzflamme an die sterblichen Überreste
meiner Freundin. Ich tue so, als würde mir der Geruch von brennendem
Menschenfleisch nichts ausmachen. Schließlich ziehe ich mich in Nicks Zimmer
zurück und hole seinen Brief aus der Tasche. Das Papier ist spröde von der
Kälte, und die Ecken des Umschlags sehen schmuddelig aus. Das Zimmer riecht
immer noch nach ihm, nach Sonnenschein und Zitrusduft, obwohl von seinen Sachen
nichts mehr da ist. Viel war es ohnehin nicht. Keiner von uns hat in diese
provisorische Unterkunft mehr als das Allernötigste zum Überleben mitgebracht.
    Der Nick-Geruch verstärkt sich, als ich die Beine hochnehme und mich
in sein Bett sinken lasse. Ich schließe die Augen und gehe meine Erinnerungen
durch, suche nach dem schönsten Bild, das mir im Gedächtnis geblieben ist.
    Ich erinnere mich an ihn. Ich erinnere mich an uns. An die Dinge,
die wir taten. An die Dinge, von denen wir sprachen, als ich noch keine Ahnung
hatte, wie wenig gemeinsame Zeit uns bleiben würde. Ein Gemisch aus Ärger und
Begierde staut sich in mir auf. Wie konnte er es wagen, einfach zu gehen, ohne
mir die Chance zu geben, ihn zu begleiten? Wie konnte er die Entscheidung für
mich treffen? Ich will nicht hier sein. Ich will nicht in Sicherheit sein. Ich
will nicht auf einem verdammten Podest stehen wie ein kostbarer Gegenstand . Ich stelle mir vor, wie er dasteht, mir zuhört,
abwartet, bis der Sturm vorüber ist und ich meine Wut ausgetobt habe.
    Meine Hand streicht über den flachen Bauch, gleitet tiefer, tiefer,
zwischen die Schenkel, und ich erinnere mich an all das Gute und Schöne, bis
ich mir auf die Lippen beiße, um nicht laut nach ihm zu rufen. Irgendwann zwischen
dem Sturm und der Ruhe danach schiebe ich Nicks Brief zurück in die Tasche,
immer noch ungeöffnet. Und ich weiß, dass ich mich auf den Weg machen werde.

    Die Bibliothekarin hätte Verständnis für meine Lage. Das sage
ich mir vor, als ich die Europa-Karten aus ihren kostbaren Atlanten reiße. Sie
hätte Verständnis.

    Die Woche will kein Ende nehmen.
    Der Montag schleppt sich dahin. Der Dienstag scheint zu kriechen.
Der Mittwoch stolpert vorbei wie ein Betrunkener auf der Suche nach einer
geeigneten Pissrinne. Selbst die Tage vor Weihnachten sind mir nie so langsam
vergangen.
    Am Donnerstag höre ich das vertraute Dröhnen. Es klingt, als sei der
Bus ganz in der Nähe. In Wahrheit ist er noch ein paar Straßenblöcke entfernt.
Dennoch ziehe ich meine Stiefel an, nehme den Rucksack und rufe ein paar
Abschiedsworte über die Schulter, während ich ins Freie laufe. Die guten
Wünsche der anderen treffen mich wie Pfeile in den Rücken und bohren sich von
da mitten in mein Herz. Ich wage es nicht, mich umzudrehen und einen letzten
Blick auf die Freunde zu werfen, die meine Familie geworden sind. Aber ich kann
nicht bleiben. Ich muss Nick finden, wenn er noch zu finden ist.
    Die Morgenluft gräbt ihre Zähne in mich, als sei ich ein gefrorener
Apfel. Ich bewege die Zehen, um warm zu bleiben.
    Der Bus hält mit einem Seufzer an. Die Türen öffnen sich zischend.
Hinter dem Steuer sitzt immer noch der gleiche Typ.
    Â»Noch mehr Fragen?«
    Â»Können Sie mich mitnehmen?«
    Er überlegt einen Moment. »Wohin?«
    Â»Zum Flughafen.« Ich streife einen Rucksackriemen von der

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