White Horse
Zettel.« Er zieht los und drückt seine Flyer jedem
in die Hand, der nicht rechtzeitig die Flucht ergreift. Lilarote Zettel segeln
zu Boden, aber Ben merkt gar nicht, dass die meisten Leute ihn für einen
Spinner halten, der ein neues Produkt oder eine neue Weltanschauung verkaufen
will.
Ich übernehme die andere Richtung. Während ich Wände und Leitungsmasten
mit Stiffys Konterfei bepflastere, lächle ich den Passanten zu, aber die
meisten sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Am Ende der StraÃe mache
ich kehrt. So war es ausgemacht. Ben und ich treffen uns vor dem Eingang
unseres Wohnblocks.
Seine Nase ist verkrustet, und seine Oberlippe zuckt. Als ich mich
erkundige, ob mit ihm alles okay sei, zuckt er die Achseln.
»Ein bisschen erkältet«, meint er. »Und wenn ichâs nicht besser wüsste,
würde ich mich für schwanger halten. Ich hänge ständig über der Kloschüssel.«
Sein Lachen klingt so rau wie das Geschrei von Wildgänsen. »Aber das ist bis
heute Abend wieder gut. Ich bin fest davon überzeugt, dass Stiffy bis dahin
daheim ist.«
Er täuscht sich. Die Flyer bewirken nichts auÃer ein paar obszöner
Anrufe. Und einmal steht ein Typ mit koreanischem Akzent vor der Tür, der einen
Job sucht. Stiffy taucht eine Woche später auf, abgemagert, verfilzt und
dreckig, zurück von einem Abenteuer, das allen auÃer ihm selbst verborgen
bleibt. Er segelt mit seiner gewohnten Arroganz durch mein hochgeschobenes
Fenster und nimmt in der ersten Reihe vor dem Gefäà Platz.
Ein kaltes Etwas kriecht durch meine Eingeweide.
»Stiffy!«
Für gewöhnlich sieht er bei dieser Anrede zu mir auf, umschmeichelt
meine Schienbeine und bettelt schnurrend um Futter. Diesmal jedoch beachtet er
mich nicht. Erst als ich mich zu ihm herunterbeuge, faucht er und schlägt mit
ausgefahrenen Krallen nach mir. Das ist nicht der Kater, den ich kenne. Ich
schlieÃe das Fenster und rufe Ben an. Das Telefon klingelt abwechselnd im Flur
und in meinem Ohr. Neunmal. Ich lege auf und wähle noch einmal. Nach dem dritten
Läuten hebt er ab.
»Bleib dran!« Er röchelt und würgt, als müsste er einen Haarball
aushusten. »Mann, ich bin am Ende.« Aber er reiÃt sich für kurze Zeit zusammen,
als ich ihm sage, dass sein Kater bei mir ist.
Eine Minute später stürmt er in meine Bude, aschfahl und mit einem
säuerlichen Mundgeruch.
Er schlieÃt seinen Kater in die Arme, und das Tier lässt es sich
gefallen.
Ben verlässt meine Wohnung mit federnden Schritten. Das Letzte, was
ich von Stiffy sehe, ist ein marmeladenfarbenes Gesicht mit weit aufgerissenen
Augen, die über die Schulter seines Herrchens hinweg das Gefäà anstarren.
SECHS
ZEIT: JETZT
Die neue Physiologie zerstörte die alten Strukturen. Mit
dem WeiÃen Pferd infizierte Menschen veränderten sich auf unberechenbare Art
und Weise. Neunzig Prozent der Bevölkerung starben. Von den restlichen zehn
Prozent war etwa die Hälfte immun. Die anderen fünf Prozent mutierten zu
überlebensfähigen Formen.
Vor Ausbruch der Seuche war der Mensch kein nachtaktives Wesen â es
sei denn, der drängende Wunsch, die höhere Stufe der Karriereleiter oder den
nächsten Level eines Videospiels zu erreichen, trieb ihn dazu. Sicher, wir
konnten uns notfalls umstellen, aber das verschaffte uns nie und nimmer die
Befriedigung des nächtlichen Schlafs.
Nun jedoch, in der Todesdämmerung der Menschheit, gibt es viele
Geschöpfe, die in der Nacht jagen. Und das bedeutet, dass sie tagsüber schlafen â¦
Das Monster, das einmal eine Frau war, zuckt im Schlaf wie ein
Hund. Ist sie noch so viel Mensch, dass sie von einer ausgiebigen Einkaufsreise
nach Mailand träumt, oder ist ihr Geist längst zurück in die Ursuppe geglitten,
wo ihr einzelliger Organismus mithilfe von GeiÃeln von einer Mahlzeit zur
nächsten treibt?
Die sechs Gestalten liegen dicht zusammengedrängt wie ein Wurf
fetter Katzenbabys im Stroh. Ihre Kiefer mahlen, aber damit wird Schluss sein,
wenn der Schweizer ihre Scheune in die Luft jagt. Diese Steine haben Erdbeben,
Unwetter und Kriege überstanden, aber nun werden sie zu Staub zerbröseln.
Lisa. Ich muss sie hier herausholen. Ich kann sie nicht im Stich
lassen.
Sie kauert immer noch auf den Querbalken des Heubodens, die Knie an
die Brust gezogen wie einen Schutzschild, der die Bestien von
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