White Horse
sprengen«, sage ich zu Lisa.
»Ich kann ihn nicht daran hindern.«
Das Fahrrad ist wieder mit Lebensmitteln beladen, alles Konserven
aus den Speisekammern des Dorfes. Ich habe auÃerdem Verbandszeug und eine
antibiotische Salbe aufgestöbert, die Lisa jetzt in der wasserdichten Tasche
ihrer Regenjacke aufbewahrt.
Wir stehen an der StraÃe, die wir erst gestern überquert haben. Die
Welt ringsum ist still und feucht. Dann explodiert sie, und Feuer lodert in den
Himmel. Diesmal reiÃt uns die Druckwelle nicht von den Beinen. Wir stehen nur
da und beobachten das Schauspiel. Ich spüre keine Erleichterung darüber, dass
die Scheune verschwunden ist. Mein einziger Trost ist, dass diese Geschöpfe nun
so etwas wie Frieden gefunden haben.
»Mir war schon wieder schlecht«, berichtet Lisa, während wir
zusehen, wie dieser Teil unserer Vergangenheit in Schutt und Asche versinkt.
Ihre Stimme klingt leise und ein wenig benommen. »Es hatte zu regnen aufgehört,
und so beschloss ich, an die frische Luft zu gehen. Aber ich verlief mich und
konnte das Fenster nicht mehr finden, durch das ich hinausgeklettert war. Ich
hörte sie kommen. Sie hechelten und knurrten wie Hunde, genau so. Ich wusste
nicht, dass das keine Hunde waren. Erst als ich in der Scheune zu mir kam,
begriff ich es. Bei dem Versuch, ins Freie zu gelangen, stieà ich auf eine Leiter
und kletterte nach oben ins Gebälk.«
»Was ist mit deinem Auge passiert?«
»Ich weià es nicht.«
»Schon gut. Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst.«
»Du wirst mich für dumm halten. Für ein dummes blindes Ding.«
Einen Moment lang verliert sie wieder den Bezug zur Wirklichkeit.
Der Schock sitzt immer noch tief.
»Es waren nicht diese Hundemenschen. Es geschah irgendwo im Wald.
Plötzlich drang mir etwas Spitzes ins Auge. Ein Nagel vielleicht. Ein groÃer
dicker Nagel. Verstehst du? Ich bin so dämlich. Jetzt wird mich kein Mensch
mehr mögen. Als Einäugige, meine ich.«
Eine unsichtbare, in das Erdreich gekratzte Linie trennt uns. Ich
schaffe es nicht, eine Brücke zu schlagen. Und allmählich gehen mir die
hilfreichen Worte aus.
»Eigentlich sollte ich einen Blindenhund kriegen, vor dieser
schlimmen Zeit. Ich habe mir immer einen Hund gewünscht. Hunde lieben dich,
egal, was geschieht.«
»Und dann?«
»Dann sagte mein Dad, wir könnten nicht noch jemanden durchfüttern.«
Sie wendet sich ab.
ZEIT: DAMALS
Ich weià nicht, warum ich an meiner Lüge festhalte.
Vielleicht weil sie wie eine Reise im Schnellzug ist. Sobald du losfährst,
kannst du das Gleis erst wieder wechseln, wenn du dein Ziel erreicht hast. Oder
entgleist.
Vielleicht habe ich einfach einen schlechten Charakter. Obwohl ich
das eigentlich nicht hoffe.
»Ich habe letzte Nacht wieder von dem Ding geträumt«, beginne ich,
doch dann unterbreche ich mich, spreize die Finger und massiere beide Schläfen
mit Daumen und Mittelfinger. »Nein, das stimmt nicht. Nein, ich habe überhaupt
nicht von dem Gefäà geträumt.«
Er hat seine »dienstliche« Miene aufgesetzt â glatt, vorurteilsfrei,
mit klarem, aufmerksamem Blick. Von dem Mann, der in mir mehr sieht als den
Fall auf seiner Couch, ist in diesem Moment nichts zu erkennen. Er kritzelt
etwas auf seinen Notizblock, hebt den Kopf, schaut mich an.
»Empfindest du das als Fortschritt?«
»Was hast du da eben geschrieben?«
Er lehnt sich zurück und streicht sich mit einer unverhohlen
maskulinen Geste den Bauch entlang. Durch sein Hemd kann ich harte, flache
Muskeln erkennen.
»Ist das wichtig?«, fragt er.
»Wahrscheinlich nicht. Ich bin nur neugierig.«
Sein Lachen wirkt ein wenig gepresst.
»Was?«
»Ich kann dich nicht dazu überreden, das Gefäà zu öffnen, aber du
willst sehen, was ich da schreibe.«
»Vielleicht will ich wissen, was du wirklich über mich denkst.« Ich
schlage die Beine übereinander. Ich beuge mich vor. Ich werfe ihm einen Blick
zu, von dem Sam einmal behauptet hatte, er bestünde zu gleichen Teilen aus
Drohgebärde und Verführung. Schuldgefühle durchzucken mich wie ein Blitz und
verschwinden wieder. Wir sind Arzt und Patientin. Nein, Klientin .
Das hat er gesagt. Aber ich kann es nicht ändern, dass ich auf ihn als Mann
reagiere. Ebenso wenig, wie er es ändern kann, dass er breitbeinig vor mir
sitzt, eine Hand auf
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