White Horse
geschliffene Fleischermesser aus meinem Rucksack. Meine Hände zittern.
Der Soldat nimmt dem Schweizer den Strick ab. »Ich helfe.«
Obwohl die Flammen reichlich Licht spenden, bleiben die Augen des
Schweizers hart und dunkel. Er setzt sich ans Feuer. »Das ist wohl
Frauenarbeit.«
Wir tun, was wir tun müssen. Die Worte des
Präsidenten, kurz bevor die Anarchie die Festungen der Macht eroberte und die
Regierung vertrieb. Wir tun, was wir tun müssen. Ich
habe den Rat befolgt. Und ich befolge ihn jetzt. Denn wenn ich das nicht tue,
verliere ich den Halt und stürze in die Trümmer meines Lebens, sieche ich dahin
und verwandle mich in Staub.
Wir tun, was wir tun müssen. Die Worte
bieten keinen Trost, als ich die Ziege häute und ausnehme. Als sie nicht mehr
wie ein Tier aussieht, sondern wie irgendein Stück Fleisch, das an einem Haken
im Metzger-Schaufenster hängt, wische ich mir mit dem Ãrmel über die Augen und
merke, dass er feucht ist.
Der Soldat taucht an meinem Ellbogen auf. »Gib!« Er streckt die Hand
aus, und ich reiche ihm das Messer.
»Wohin gehst du?«
»Nach Brindisi.«
»Die Boote.«
»Ja.« Er führt die Klinge geschickt und mit sicherer Hand. »Hast du
das schon öfter gemacht?«
»Ja. Meine Familie hat einen Hof mit â¦Â«
Er unterbricht die Arbeit und drückt seine Nase platt.
»Schweinen?«
»Und Hühnern. Ich schneide schon immer Fleisch für Familie. Mein
Vater zeigt mir.«
»WeiÃt du, ob deine Angehörigen noch leben?«
»Sind gestorben. Meine Schwester ⦠vielleicht nicht. Lebt in Roma
mit ihre Familie. Und bei dir?«
»Alle tot.«
In seinen Augen schimmert Verständnis und Mitgefühl. »Aber wir sind
hier, ja?«
»Wie lange noch?«
»Du musst hoffen.«
»Das ist manchmal schwer.«
»Ja, schwer. Vielleicht die schwerste Sache für Menschen. Aber wir
sind hier.« Er hält zwei Ziegenkeulen hoch. »Und heute Nacht haben wir sogar Essen.«
Bald sind wir alle so satt wie seit Wochen nicht mehr. Die Ziege
ist zäh und vom langen Braten zu trocken, aber das macht mir nichts aus.
Während die heiÃen Bissen durch meine Kehle gleiten, verliere ich mich in der
Fantasievorstellung, ich säÃe in einem vornehmen Restaurant vor einem Steak und
ein Weinkellner würde unauffällig in meiner Nähe warten, um mein Glas
nachzufüllen.
Der Soldat reiÃt die Fasern von den Knochen und verschlingt sie
gierig. »Tut mir leid«, murmelt er, als er merkt, dass ich ihn beobachte.
Ich höre einen Moment lang zu kauen auf. »Du musst dich nicht
entschuldigen«, sage ich. »Es ist einfach schön, mit Jemandem eine Mahlzeit zu
genieÃen. Mit Freunden.«
Er prostet mir mit seiner Feldflasche zu.
Freunde. Sind sie das wirklich, meine Weggefährten? Lisa zieht sich
täglich mehr von mir zurück, und den Schweizer kann ich nicht durchschauen. Er
kann freundlich und hilfsbereit sein, aber inzwischen bringt er bestenfalls ein
Knurren hervor. Nur der Soldat, der eben erst zu unserer Gruppe gestoÃen ist,
erscheint mir vertrauenswürdig. Selbst jetzt bleiben alle ihrem Charakter treu.
Der Schweizer lässt uns nicht aus den Augen, während er an seinem Fleisch nagt,
als befürchte er, jemand wolle ihm seinen Anteil an der Beute entreiÃen. Lisa,
die neben ihm sitzt, schneidet ihre Portion mit meinem Schälmesser in winzige
Würfel. Ihr Haar ist ein schlaffer, fettiger Vorhang, der ihr Gesicht verbirgt,
während sie kaut und schluckt.
Bald ist mein Bauch voll, und ich spüre das mittlerweile vertraute
Flattern.
Der Soldat spieÃt noch einen Brocken Fleisch auf und reicht ihn mir
mit dem Messergriff voraus. »Iss. Iss.«
»Ich kann nicht. Das ist zu viel.«
»Du bist ganz dünn.« Er lacht. Ich lache ebenfalls, weil wir alle
viel zu mager sind und mehr als eine Mahlzeit bräuchten, um wieder Polster
anzusetzen.
»Keine Sorge, du wirst bald fett genug sein«, wirft der Schweizer
rüde ein. »Falls das Geschöpf in dir am Leben bleibt.«
Ich kaue und schlucke wortlos. Der Soldat sieht mich fragend an.
»Ich bin schwanger.«
Lisa vergisst weiterzuessen und starrt einäugig durch das Feuer zu
mir herüber.
»Das wusste ich nicht«, sagt sie. »Warum hast du mir das nicht
erzählt?«
»Weil es genug andere Dinge gab, die uns Sorgen
Weitere Kostenlose Bücher