White Horse
willst mich doch auch, sagt Nick in
meinen Gedanken.
»Nicht jetzt.«
Er verstummt. Bitte, gib, dass er nicht heute auf der Liste steht.
Ich behalte die Hausschuhe an, ziehe aber einen Mantel über die
Jeans. Dennoch überkommt mich ein Frösteln, als mir die Kälte entgegenschlägt.
Die zwei Vierteldollar-Münzen sind eisige Bleigewichte in meiner Faust. Sie
scheppern in den Zeitungsautomaten, und ich benutze den Ãrmelrand, um das Fach
aufzuziehen.
Die Lokalzeitung ist verschwunden, ersetzt durch die United States Times . Unwillkürlich kommt mir Jesse in den
Sinn, der Junge, der einfach nur gut sein will.
Auf dem Rückweg nehme ich immer zwei Stufen auf einmal. Die
Wohnungstür kracht hinter mir zu. Ich krame noch ein paar Münzen zusammen und
renne wieder los.
Unten angekommen, versenke ich jeweils zwei davon in den anderen
Automaten mit den überregionalen Blättern. Ich muss wissen, ob es drauÃen in
der Welt Neuigkeiten gibt, die nicht bis zu uns vordringen. Aber sämtliche
Kästen enthalten die gleiche Publikation â die United States
Times . Dass die Berichterstattung so gefährlich auf ein Minimum
reduziert wird, zwingt mich zum raschen Handeln.
Wieder zurück in meinem Schlupfloch, seziere ich die Zeitung. Ich
wühle mich durch die Seiten wie ein Wahrsager durch die Eingeweide von
Opfertieren, um einen Fingerzeig zu erhalten, der mir den richtigen Weg weist.
Es ist nur eine Zeitung. Mit einer fett gedruckten Ãberschrift, die ihr
Erscheinen ankündigt. Kein empörter Aufschrei: Ich habe die
Konkurrenz ausgebootet und euch über Nacht die Pressefreiheit genommen! Auf der Titelseite die üblichen Botschaften. Gewonnene Schlachten. Jubel bei
den Soldaten. Zufriedene Truppenführer. Weiter hinten zwölf Todesanzeigen mehr
als am Vortag.
Der weià gestrichene Wandschrank im Flur wirkt mit einem Mal wie ein
bedrohlicher Koloss, als ich ihm Eigenschaften zuweise, die er gar nicht
besitzen kann: düster, unheilvoll, gefährlich.
Als das Telefon klingelt, springe ich auf.
»Aus Ihrer Wohnung erreicht uns ein Alarm. Benötigen Sie Hilfe?«
Ich habe den Alarm vergessen. Verdammt. »Nein, nein, alles in
Ordnung. Ich hatte nur alle Hände voll mit meinen Einkaufstüten.«
»Ihr Code bitte.«
Ich gebe ihnen den Code durch und den Zweitcode und den Mädchennamen
meiner Mutter. Als sie endlich überzeugt sind, dass ich keine Doppelgängerin
bin, stellen sie das System auf Reset, und ich schlieÃe mich ein.
Ich stehe vor dem Schrank. Meine Hände schweben über den Griffen.
»Ich bin bereit«, erkläre ich dem Nick, der in meinem Kopf wohnt.
Er ist immer noch da, der Karton, den ich hier verstaut habe, fest
umwickelt mit Paket-Klebeband. Zwischen dem Plastik-Weihnachtsbaum, den ich
behalte, weil es gegen die Vorschriften verstöÃt, sperrige Gegenstände im
Aufzug zu befördern und ich es hasse, einen echten Baum die Treppe
hochzuschleppen. Und der Schachtel mit den Bibeln, die sich im Lauf der Jahre
angesammelt haben, weil alle möglichen Leute etwas für mein Seelenheil tun
wollten. Da ich zu abergläubisch bin, um sie wegzuwerfen, bewahre ich sie hier
auf, in der Hoffnung, damit all jene abzuschrecken, die meinen Schatz an
frommer Literatur zu erweitern gedenken. Kein schlechter Plan, bis mir James
letzte Weihnachten einen Strich durch die Rechnung machte und eine Kinderbibel
schenkte, die mit frechen Comicfiguren ausgeschmückt war.
Die grinsen mir nun fröhlich zwischen den Deckelklappen entgegen.
Ich schaue rasch weg, bevor mir die Tränen kommen.
Auf dem FuÃboden sitzend und die Beine zu einem weiten V gespreizt,
ziehe ich den Karton zu mir heran. Er hat nichts Besonderes an sich. Im
Gegenteil, er sieht er recht unscheinbar aus. Logischerweise wirkt ein mit
Klebeband umwickeltes Paket nicht unbedingt bedrohlich. Würde ich das Ding zur
Post schleppen, dächte jeder, es sei eine Liebesgabe für einen teuren Freund.
Es ist der Inhalt, der ihm die düstere Aura verleiht. Ein böses Geheimnis
lauert in diesem Karton.
Ich habe einen Plan. Er spukt mir seit der Begegnung mit Jesse im
Kopf herum, aber der menschliche Verstand ist unübertroffen, wenn es darum
geht, Informationen von sich selbst fernzuhalten. Fehlgeleitete Gedanken
streunen durch die selten besuchten Regionen unserer Gehirnhälften, bis
irgendein Auslöser sie dazu bringt, aus den Schatten zu
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