White Horse
Ihnen was sagen? So ein Leiden mit fürchterlichem
Erbrechen, bei dem einem schlieÃlich ein Schweif wächst â das gibt es gar
nicht. Und manche der Opfer hatten überhaupt keinen Schweif, dafür aber andere
komische Wucherungen. Bei einem Jungen fanden sie zwei Herzen, als sie ihn
aufschnitten, nur dass eines davon nach oben zum Schlund hin wuchs und ihn
erstickte. Einige starben einfach, weil das Erbrechen sie zu sehr geschwächt
hatte, aber manchen wuchsen Dinge, die kein Mensch braucht. Also redete ich mit
meiner Mom, und die meinte, dass ich womöglich etwas Neues entdeckt hätte,
etwas, wovon noch niemand gehört hätte, und wenn ich herausfände, was das genau
sei, würden sie es vielleicht nach mir benennen. Wenn dann überhaupt noch wer
am Leben ist.« Er lässt die Schultern sinken. Seine Finger trommeln langsamer.
Mein Gehirn hat sich in eine Radiostation verwandelt, aus der nur
statisches Rauschen dringt. Ich glaube ihm. Die Puzzleteile sind alle
vorhanden.
»Und was habe ich damit zu tun?«
»Eine neue Krankheit muss irgendwoher kommen. Haben Sie Resident Evil gesehen? Da gab es einen Laborunfall, durch
den alle Leute in Zombies verwandelt wurden. Ich denke mir, dass es so was
gewesen sein könnte.«
»Das war nur ein Film.«
»Solche Sachen passieren. Da gab es schon jede Menge
Forumsdiskussionen. Ich war bei vielen Labors und Firmen, die Medikamente
herstellen, und niemand wollte mit mir reden. Entweder lächelten sie über mich
und drückten mir Broschüren in die Hand, oder sie drohten, mich rauswerfen zu
lassen. Ein Typ wollte sogar dafür sorgen, dass ich in eine Anstalt käme. Dabei
ging es mir nur darum, ein paar Fragen zu stellen. Ich glaube, die weigerten
sich, mit mir zu reden, weil sie dachten, ich sei gefährlich.«
Ich schüttle den Kopf. »Die weigern sich, mit Ihnen zu reden, weil
Sie vielleicht recht haben.«
Es ist irre. Es sollte irre sein. Aber das heiÃt nicht, dass es
falsch sein muss. All die toten Mäuse. Jorge. Das mit Knochen vollgestopfte
GefäÃ. Fragen tun sich auf. Vielleicht ist mein Argwohn gar keine Paranoia.
Ben ist tot. James. Raoul. Bereits die zweite Empfangsdame. Die Frau
vom Waschraum. Und der Mann in Arkansas mit der Mutation â o Gott!
Jesses Finger steigern den Trommelrhythmus, werden wieder langsamer.
Er dreht sich zu mir her, und ich denke, jetzt wird er mich ansehen, aber
stattdessen starrt er auf meine Lippen. »Werden Sie mir meine Fragen
beantworten?«
Ich würde ihm den Gefallen ja tun. Aber ich kann nicht. Ich erkläre
ihm, dass der Vertrag, den ich unterschrieben habe, eine
Schweigepflicht-Klausel enthält, damit er begreift, wie es in der Geschäftswelt
zugeht, wenn eine Menge Kohle und der Ruf einer Firma auf dem Spiel steht. Ich
glaube, er hat verstanden, als er sich abwendet und wieder die Sitzlehne anstarrt.
»Sie haben Angst. Ich habe auch Angst. Meine Mom sagt immer, dass es
ganz okay ist, Angst zu haben. Angst ist ein Signal von unserem Gehirn, das uns
zur Vorsicht mahnt.«
Jenseits des Zugfensters wechselt die Landschaft. Noch zwei Minuten,
dann muss ich aussteigen.
»Ich wollte, ich könnte das«, sage ich zu Jesse. Er scheint ein
guter Junge zu sein. Ich mag ihn und würde ihm gern helfen.
»Bitte.«
»Tut mir leid. Ich will weder Ihnen noch mir schaden.« Was immer das
heiÃt.
»Aber mein Dad wäre so stolz, wenn sie diese Krankheit nach mir
benennen würden. Dan müsste er einsehen, dass ich anders-gut bin.«
Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Ich streife meine Tasche über eine
Schulter und greife mit der freien Hand nach einem Haltebügel. So schirme ich
mich gegen seine Fragen ab. »Tut mir leid.«
Das Letzte, was ich von ihm sehe, als ich einen Blick über die
Schulter werfe, ist sein gegen die Fensterscheibe gepresstes Gesicht. Er starrt
direkt in meine gut gehütete Seele.
Ich mache wie gewohnt meine Arbeit. Ich putze, rede mit den
Mäusen, halte Ausschau nach Anzeichen von Schwäche, die auf ihren baldigen Tod
hinweisen. Ich gebe ihnen keine Namen, obwohl der putzige Kleine mit den
gebogenen Schnurrhaaren, der im letzten Käfig sitzt, nach einer Identität
bettelt, die nicht nur aus einem Nummerncode besteht.
Ich beobachte die Mäuse und frage mich, ob das Experiment womöglich
gröÃer ist als diese Käfigreihe.
Meine Paranoia hat ihren eigenen Kopf.
Du
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