White Horse
springen.
Die United States Times . Jesse. Sein gegen
die Fensterscheibe gepresstes Gesicht. Seine Augen, die mich zum ersten Mal
direkt ansehen. Die mich auffordern, gröÃere Taten zu vollbringen, als nur
FuÃböden und Käfige zu putzen.
Die Schere hinterlässt ausgefranste Ränder, als sie das Paketband
durchtrennt. Eine neue Rolle liegt neben mir bereit. Sie wird die Ãffnung
zukleben, sobald ich erledigt habe, was erledigt werden muss.
Ein tiefer Atemzug.
Den Deckel abnehmen.
Eine Handvoll Splitter in eine Plastiktüte schaufeln. Erst die Tüte,
dann den Karton versiegeln. Den Karton mit der FuÃspitze zurück in sein
Versteck schieben.
Ich bin bereit für gröÃere Taten.
ZEIT: JETZT
Der Schweizer schneidet mir den Weg ab, als ich das Deck
verlassen will. »Deine dumme Freundin will eine Abtreibung.«
»Nein, will sie nicht.«
»Wer bist du, dass du für sie entscheidest? Es ist ihr Körper.
Amerikaner. Euch ist jedes Leben heilig. Nur in den Ländern, die keine
brauchbaren Rohstoffe besitzen, lasst ihr die Menschen verrecken.«
»Es geht hier nicht um Moral, sondern um ihre Gesundheit. Wir haben
weder sterile Instrumente, noch gibt es einen Ort, der hygienisch genug für
einen solchen Eingriff wäre. Heutzutage könnte es sogar riskant sein, einen
Abszess aufzustechen. Das habe ich ihr bereits klarzumachen versucht.«
»Wenn wir ein Krankenhaus finden, gibt es dort aller Voraussicht
nach auch Antibiotika.«
»Woher weiÃt du das?«
»Ich weià über viele Dinge mehr als du.«
Zorn steigt in mir auf, ballt sich zusammen und sucht ein Ventil.
Ich würde ihm am liebsten die Hände um den Hals legen und zudrücken, bis ihm
die Luft wegbleibt, aber ich tue es nicht. Stattdessen fahre ich blitzschnell
den Ellbogen aus, reiÃe ihn hoch und treffe ihn am Kinn. Er stolpert rückwärts,
stürzt der Länge nach auf die Planken. Einen Moment lang liegt er benommen da
und rudert mit Armen und Beinen wie ein soeben aus den salzigen Fluten gefischter
Hummer.
Niemand eilt ihm zu Hilfe. Sie schauen weg, wollen sich nicht
einmischen. Wer kann es ihnen verdenken? Die Menschheit hat sich zu lange von
ihrer hässlichsten Seite gezeigt. Ich bin da keine Ausnahme. Eine tiefe Scham
erfasst mich. Ich hätte mich besser beherrschen sollen, aber er hat Lisa schon
genug angetan.
Er dreht sich mit einem Ruck um und springt auf.
»Was ist denn, wenn sie ihr Kind bekommt? Was ist dann? Was ist,
wenn du dein Kind bekommst?«
Helft mir, flehe ich das Meer, den Himmel
und die ganze Welt dazwischen an. Ich weià nicht, was ich tun soll.
ZEIT: DAMALS
Der Parthenon in Athen hat viele arme und weniger
bedeutende Verwandte, die über die ganze Welt verstreut sind; die schöpferische
Kraft des Menschen ist begrenzt und zugleich unendlich. Ein solches Bauwerk
beherbergt das Nationalmuseum, in dem James und Raoul vor nicht allzu langer
Zeit Tonscherben sortierten. Meine auf dem Gehweg unauffälligen Schritte
dröhnen nun laut über die Marmorfliesen eines nahezu leeren Foyers. AuÃer mir
ist nur noch ein Mädchen da, das am Schreibtisch neben dem Eingang sitzt und
mich über den makellosen Einband und steifen Rücken einer Bibel hinweg
anschaut.
»Oh.« Ihrem Tonfall nach haben sich Leute, die hier auftauchen,
höchstwahrscheinlich verlaufen. »Hallo.«
Sie erhebt sich, streicht ihre Hose glatt und lächelt, als sei ihr
eben eingefallen, dass Lächeln zu ihren obersten Pflichten hier gehört.
»Ich müsste jetzt âºWillkommen im Nationalmuseumâ¹ sagen, aber ich
hatte heute nicht mehr mit Besuchern gerechnet. Seit einer Woche ist kein
Mensch mehr hier gewesen. Bis auf die Mitarbeiter natürlich. Und die kommen
meist durch den Hintereingang, weil wir da parken.« Sie beugt sich über den
Marmortresen und flüstert: »Eigentlich darf ich das nicht, aber ich lasse Sie
so durch. Normalerweise kostet der Eintritt zehn Dollar, auÃer am Dienstag, da
kann jeder umsonst rein. Ich finde nur, dass zehn Dollar das Kraut auch nicht fett
machen. Ein Museum ist kein Museum, wenn keiner vorbeischaut und unsere
Sammlungen besichtigt. Haben Sie ein spezielles Interesse?«
Sie zieht eine Glanzbroschüre unter dem Tresen hervor und breitet
sie aus, um mir die Wunder dieser Welt zu zeigen. Ich will ihre Begeisterung
nicht bremsen. Deshalb verrate ich ihr nicht, dass ich den Weg kenne.
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