White Horse
Soll sie
ihren Auftritt genieÃen.
»Anthropologie?«
Sie zieht einen Kreis um den gesamten Ostflügel. »Die Abteilung ist
riesig, aber ich verspreche Ihnen, Sie werden das viele Laufen nicht bereuen.«
Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und klappt wieder die
nagelneue Bibel auf. Entweder sucht sie Antworten oder Erlösung. Ich hoffe, sie
findet beides.
Ich war hier gut ein Dutzend Male, tief unten in den Kellerräumen,
wo die Kuratoren und ihre Assistenten in engen Büros arbeiten, die eher Zellen
als Zimmer sind. Wie ein Auto, das immer die gleiche Strecke zurücklegt und
immer die gleiche Ausfahrt nimmt, tragen mich meine FüÃe zu dem winzigen
Kabäuschen von James. Da steht es, schwarz auf weiÃ: James Witte, Dr. phil. Ich
werde mich beherrschen. Ich werde nicht weinen. Weinen bringt jetzt nichts. Und
doch, als meine Finger die weiÃen Plastiklinien nachziehen, werden meine Augen
heià und füllen sich mit Tränen.
Die Tür, nach der ich suche, befindet sich in einer Ecke ganz am
Ende der Reihe, was besagt, dass der Raum dahinter etwas gröÃer ist als die
benachbarten Nischen. Aber niemand reagiert auf mein Klopfen. Ich bete, dass
Dr. Paul Mubarak noch am Leben ist.
Mein Gebet wird erhört. Ich finde ihn auf einer der vielen
Museumsbänke, über eine Münze gebeugt, die nicht ebenmäÃig genug für ein
Exemplar der neueren Zeit ist.
Er schaut auf, lacht leise und dreht das alte Geldstück zwischen
schlanken, braunen Fingern.
»Ein Denarius . Ein Tageslohn für manche
Leute im alten Rom. Im zweiten Jahrhundert wurde er kaum noch benutzt, aber die
vierhundert Jahre davor kannte man ihn in allen Kulturen der Welt.« Seine
klugen Augen mustern mich, katalogisieren mich, stellen mich hinter Glas auf
ein Podest. »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Bei der Beerdigung von James Witte, ja.«
»Und was führt Sie heute in unser Museum? Gewiss kommen Sie nicht
als Tourista â nicht jetzt, da vor diesen Toren eine
andere Zivilisation zerfällt.«
Ich atme tief durch. »Ich benötige Hilfe bei der Bestimmung eines
Gegenstands. James und Raoul waren dabei, das für mich zu erledigen, als sie â¦Â«
»Dann machen wir erst mal einen kleinen Rundgang und tun so, als
seien Sie hergekommen, um unsere herrlichen Sammlungen zu bewundern. Es gibt im
Moment viele Dinge, die meine Seele belasten, nicht zuletzt all die neuen
Lieferungen, die ich nicht sichten und auswerten kann, weil mir die
Praktikanten fehlen. Ich lade Sie zu einer privaten Führung ein, in der
Hoffnung, dass die Gesellschaft eines hübschen Mädchens meine Stimmung hebt.
Wir werden allerdings darauf achten müssen, den Besucheransturm nicht zu
stören.«
Ich begleite Dr. Mubarak und lasse mich von seinen Schilderungen
über das alte Rom und Ãgypten verzaubern. Sein schwacher Akzent hilft mir, mich
an einen exotischen Ort zu versetzen, wo nicht auf Schritt und Tritt der Tod
lauert.
»Manchmal betrachte ich sie und frage: Bist du meine
UrururgroÃmutter?«
Wir sind neben einer Mumie stehen geblieben, deren Charme in ihrem
Alter liegt und die halb verfaulten Leinenbinden, mit denen sie umwickelt ist,
vergessen lässt.
»Wer war sie?« Ich könnte die Bronzetafel mit der schwarzen
Inschrift lesen, aber ich genieÃe es, von Dr. Mubarak Auskunft zu erhalten.
»Leider wissen wir noch nicht viel über meine schöne Vorfahrin. Und
so nennen wir sie Grace, bis sie eines Tages wieder ihren wahren Rang und Namen
tragen wird. Eine Königin vielleicht. Oder eine Prinzessin. Jedenfalls war sie
bedeutungsvoll genug, dass man alles unternahm, um ihre äuÃere Gestalt zu
erhalten. Aber â wollen Sie mir nicht erzählen, was Sie zu mir geführt hat? Wie
Sie sehen, sind wir derzeit nicht mit vielen Besuchern gesegnet. Die Welt hat
Probleme und sucht die Lösung überall, nur nicht in der Geschichte. Dabei kann
alles, was wir wissen müssen, in der Vergangenheit gefunden werden. Sie ist das
Fundament, auf dem wir stehen. Man wird die Fehler, die früher gemacht wurden,
immer wieder machen, bis in alle Ewigkeit.«
Ich fände es schäbig, diesem Mann Halbwahrheiten aufzutischen, und
so erzähle ich ihm alles über James und Raoul und ihr Vorhaben, mir bei der
Suche nach der Herkunft des Tonkruges zu helfen. Als ich fertig bin, sagt er:
»Zeigen Sie mir, was Sie haben.«
Wir
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