White Horse
Vögel fraÃen ihre Brotkrümel, während die verirrten
Kinder ihren Hunger an dem Lebkuchenhaus tief im Wald stillten. Doch das
Häuschen war eine List, um Kinder anzulocken, die dem süÃen Naschwerk nicht
widerstehen konnten. Die Hexe, so erzählten uns die Brüder Grimm, war eine
Menschenfresserin mit einer besonderen Vorliebe für kleine Kinder. Deshalb nahm
sie Hänsel und Gretel gefangen und mästete Hänsel, um ihn später zu verspeisen.
Doch sie bekam ihren gerechten Lohn, denn als sie den Ofen anheizte, schubste
die mutige Gretel sie ins Feuer.
Was ist Lisas Lebkuchenhaus? Wenn ich es herausfinde, dann finde ich
auch sie.
Die nächsten paar Tropfen sind verwischt. Ich überlege, was das
bedeutet, aber mein Verstand ist zugleich vom Schlaf gedämpft und von Angst
geschärft. Ich springe von einer Schlussfolgerung zur nächsten, verwerfe sie
und entwickle neue Hypothesen, die nichts mit der Realität und eine ganze Menge
mit Verschwörungstheorien zu tun haben.
Ich renne jetzt, folge den Brotkrümeln. Ich muss wissen, wohin sie
führen. Ich muss sie finden. Denn ich glaube nicht, dass sie allein ist. Sie
kann nicht allein sein. Es muss jemand bei ihr sein, der sie lockt und der sie
führt.
Wieder und wieder mache ich mir bittere Vorwürfe. Es ist alles meine
Schuld. Ich bin eingenickt, obwohl mir klar war, dass ich nicht schlafen
durfte. Ich wusste, dass sie verletzt war, dass sich ihr Verstand zunehmend
verwirrt hatte.
Ich war für sie verantwortlich und hätte mich nicht von ihr
entfernen dürfen.
Blut. Blut. Noch mehr Blut. Die StraÃe entlang, vorbei an
verlassenen tavernas , vorbei an Läden ohne
Kundschaft. Manche haben mit Brettern vernagelte Fenster und ramponierte Türen,
aber die meisten sind unversehrt, als seien die Menschen einfach fortgegangen.
Fort aus dem Leben.
Die Gegend verändert sich. Die kleinen Läden weichen Autohändlern für
Gebraucht- und Neuwagen. Die meisten sind verschwunden. Was noch so herumsteht,
ist Schrott. Einige hatten wohl versucht, möglichst schnell von hier zu verschwinden,
und es nicht mehr rechtzeitig geschafft. Ein Skelett hängt über einem Lenkrad,
ein zweites liegt zusammengesunken neben der Beifahrertür.
Doch im Moment sind meine Gedanken anderswo.
Lisas Blutspur führt mich zu einem niedrigen Gebäude mit Fenstern
aus drahtverstärktem Glas. Das Schild an der Tür sagt mir nichts, weil ich die
griechische Schrift nicht lesen kann. Geschäftszeiten an bestimmten Tagen von 9
bis 17 Uhr. So viel verstehe ich. Aber das ist unwichtig. Ich weià nicht
einmal, welchen Wochentag wir haben. Das letzte wichtige Datum war die Ankunft
der Fähre in Brindisi. Seither haben sich diese Dinge verwischt. Der Schwall
schlägt mir im gleichen Moment entgegen, da ich mit der Schulter die Tür aufdrücke.
Sie stöÃt ein paffendes Geräusch aus wie ein reicher alter Mann, der im Casino
an einer Zigarre zieht und zieht, um dann die Rauchwolke seiner Begleiterin ins
Gesicht zu blasen â der Frau, die er für zu viel Geld gekauft hat und doch
verachtet. Eine Lunge voll Krankenhausluft strömt auf mich ein: Fichtennadeln,
die nie einen Wald gesehen haben, vermischt mit dem Katzenpisse-Gestank von
Ammoniak. Das Zeug überdeckt fast, aber nicht ganz, den Kupfergeruch von
frischem Blut.
Mein Herz hämmert gegen die Rippen. Nichts wie
weg von hier, lautet der Morsecode. Aber das hier ist wie einer dieser
Träume, wie wir sie als Kinder alle hatten. Träume, in denen der GroÃe Böse
Wolf uns holen will und wir uns nicht vom Fleck rühren können, weder für Geld
noch für gute Worte.
Klack, klack.
Stühle. Plastikformschalen, wie in einem Wartezimmer hufeisenförmig
um einen Tisch angeordnet. An den Kanten blättert das Laminat ab, und darunter
kommen billige Pressspanplatten zum Vorschein. An einer Seite ein Schalter mit
Milchglasscheiben, die sich zur Seite schieben lassen. Ein kahler Fleck an der
Wand, wo sich früher mal ein Fernsehgerät befand.
Es ist beinahe zum Lachen. Wann immer es zu einer Katastrophe kommt,
beginnt erst mal der Wettlauf um die Elektronik. Die Leute schleppen sich die
teuersten Geräte ins Haus, in der Hoffnung, nun mindestens ebenso gut
dazustehen wie die Nachbarn. Alles schön und gut. Nur liegen sie alle
inzwischen höchstwahrscheinlich mit dem Gesicht nach unten irgendwo in der
Gosse und haben nichts
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