White Horse
Hafenbecken.
Energie verschwindet nie, sie wird nur umgewandelt. Und doch spüre ich, dass
ich etwas verloren habe.
»Okay.«
Als sich diesmal mein Körper entspannt, erinnert er an eine
Schleife, die vom Knöchel einer Ballerina rutscht, wenn sie, matt und erschöpft
vom harten Training, ihre Tanzschuhe auszieht. »Ich hasse dich.«
Der Schweizer blickt auf mich herunter, die Lippen zu einem starren
Grinsen verzogen. Er stöÃt mich mit dem Stiefel an. »Feigling!«
»Vielleicht«, entgegne ich. »Vielleicht auch nicht.«
»Du bist ein Angsthase! Jeder andere würde eine Möglichkeit finden,
mich umzubringen.«
»Keine Sorge, irgendwann töte ich dich.«
»Weshalb hast du dann den Kampf aufgegeben?«
»Es war nicht meine Entscheidung.«
»Dann hast du mir nichts voraus. Wir sind die gleichen Mistkerle,
Amerika.«
»Entscheide dich endlich! Entweder ich bin feige oder nicht.«
Ich bücke mich und helfe Lisa auf die Beine. Ihre Seite sieht aus
wie ein aufkommendes Gewitter â schwarz und blau und von Blitzen aus Wundrot
durchzogen. Im Moment bin ich keine groÃe Hilfe für sie. Ich bin keine Ãrztin.
Wie soll ich wissen, ob sie etwas gebrochen hat? Wir müssen einfach so tun, als
sei alles in Ordnung, und unseren Weg fortsetzen.
»Mit deinem Baby ist alles in Ordnung?«
Sie zuckt die Achseln. Erkundigt sich nicht nach meinem Kind.
»Geht doch«, sagt der Schweizer. »Ich halte euch nicht auf.«
Ich sage lieber nichts, aus Angst, er könnte es sich noch mal anders
überlegen.
Karte und Kompass in der Hand, humpeln wir Athen entgegen. Das
heisere Lachen des Schweizers bleibt als weiÃes Rauschen zurück und verstummt
schlieÃlich ganz.
Der Himmel hat das glatte, gleichförmige Grau einer Farbprobe,
aber wenigstens regnet es nicht. Da sind wir wieder, Lisa und ich. Das Fahrrad
ist weg. Unsere Lebensmittel sind weg. Ihr Stock ist weg. Meine Messer sind
weg. Der Schweizer ist weg.
Ich hätte ihn umbringen, sein Leben auslöschen können wie einen
Schmutzfleck. Ich hätte es zumindest versuchen sollen. Aber das Meer sog mir
die letzten Kräfte aus dem Leib und lieà mich so leer zurück wie ein
vergessenes Weinglas. Meine Hände zucken und zittern immer noch und wollen
nicht zur Ruhe kommen, obwohl ich die Riemen meines Rucksacks mit festem Griff
umfasse.
Wenn er noch einmal wagt, in unsere Nähe zu kommen, ist er ein toter
Mann.
Hand in Hand folgen wir der Peiraios -StraÃe
nach Athen. Wir stoÃen kaum auf verlassene Fahrzeuge. Die Griechen waren wohl
rücksichtsvoll genug, ihre Autos brav in den engen Gassen der Wohnviertel
abzustellen und dann in ihren Häusern zu sterben. Um die Toten machen wir einen
groÃen Bogen. Es erscheint mir pietätlos, über sie hinwegzusteigen. In meinen
Albträumen packen sie mich, versuchen mich zu Boden zu ziehen und dorthin
mitzuzerren, wo die sterblichen Ãberreste sind.
Die düsteren Gedanken begleiten mich nach Athen. Wir sollten die
Hauptstadt meiden, aber es führt kein Weg an ihr vorbei. Piräus ist längst mit
Athen zusammengewachsen. Nichts trennt die beiden Städte.
Der Betondschungel ist zu einem Standbild erstarrt. Nichts auÃer uns
bewegt sich. Wir sind Diebe, die versuchen, sich unbehelligt durch eine Stadt
der Toten zu stehlen. Das lässt sich am leichtesten auf der groÃen
DurchgangsstraÃe bewerkstelligen. Da ihre Trasse erhöht angelegt ist, kann sich
uns niemand unbemerkt nähern.
Wir marschieren, bis die Nacht hereinbricht und Athen im Dunkel
versinkt. In der Schwärze vor uns zeichnet sich ein einzelner Lichtpunkt ab.
Ich beschreibe Lisa die Umgebung.
»Sehen wir nach, was das ist«, sage ich.
»Ich will da nicht hin.«
»Wir schleichen uns an, und ich versuche herauszufinden, ob uns
Gefahr droht.«
»Nein.« Ihre Stimme klingt hysterisch.
»Dann gehe ich allein.«
»Nein. Bleib bei mir.«
»Gut. Ich bleibe bei dir.«
Die StraÃe führt uns näher an den Lichtpunkt heran. Er verbreitert
sich zu einem hellen Schein, der uns anzieht wie Motten. Lisa ist so
angespannt, dass ich das Gefühl habe, neben einem Geigenbogen herzulaufen.
Vor uns ist eine optische Täuschung. Das
Licht sickert aus einem bewaldeten Gebiet in Spuckabstand. Es liegt rechts von
uns und tief, tief unten.
»Wir ducken uns, und ich werfe einen Blick über die Kante.«
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