Wicked - Die Hexen von Oz

so behandeln zu lassen.«
    Es dauerte fünf oder sechs Nächte, bevor sie bei ihren Flugübungen zwei Meter über den Boden kam. In der Zauberei war sie eine Versagerin gewesen. Sollte sie in allem eine Versagerin sein? Doch schließlich machte es ihr sogar Spaß, die Schleiereulen und Fledermäuse herumzuscheuchen.
    Als sie selbstbewusster geworden war, schlingerte sie ins Tal hinunter zu den Überresten des Staudamms, den der Ozma-Regent einst begonnen hatte. Sie machte eine Rast und hoffte, dass sie nicht zu Fuß heimkehren musste. Die Sorge war unbegründet. Der Besen gehorchte ihr zwar nur widerstrebend, doch sie konnte ihm immer mit Feuer drohen.
    Sie fühlte sich wie ein nächtlicher Engel.
    Im Hochsommer kam ein arjikischer Händler mit Töpfen und Löffeln und Nähgarn, und er hatte ein paar Briefe dabei, die an einer Station weiter im Norden abgegeben worden waren, darunter auch einen von Frex. Anscheinend hatte Ämmchen ihm von ihrer Absicht erzählt, Elphaba aufzuspüren, und er hatte an das Kloster geschrieben, und dieses wiederum hatte den Brief nach Kiamo Ko im Winkus weitergeleitet. Frex schrieb, dass Nessarose eine Revolte inszeniert und dass sich Munchkinland – jedenfalls zum größten Teil – von Oz abgespalten und zu einem unabhängigen Staat erklärt hatte.
    Als die amtierende Eminenz Thropp war Nessarose das Staatsoberhaupt geworden. Frex hielt das für Elphabas Geburtsrecht und meinte, sie solle nach Kolkengrund kommen und dieses von ihrer Schwester einfordern. »Möglicherweise ist sie für die Aufgabe nichtdie Richtige«, schrieb er zweifelnd, was Elphaba erstaunte. War Nessarose nicht die seelenverwandte fromme Tochter, die Elphaba nie hatte sein können?
    Elphaba hatte keinerlei Ambitionen und dachte gar nicht daran, den Titel von Nessarose einzufordern. Doch jetzt, wo der Besen offenbar imstande war, sie weite Strecken zu befördern, überlegte sie, ob sie nicht bei Nacht nach Kolkengrund fliegen und ein paar Tage lang Papa, Nessie und Krott besuchen sollte. Es war zwölf Jahre her, dass sie ihre Schwester in Shiz alleingelassen hatte, betrunken und tief betroffen von Muhme Schnapps Tod.
    Ein vom eisernen Griff des Zauberers befreites Munchkinland! – das allein wäre schon die Reise wert gewesen. Elphaba musste selbst ein bisschen über sich grinsen, als sie die alte Verachtung für den Zauberer wieder aufflammen fühlte. Vielleicht war es ja das, was man unter Heilung verstand.
    Um sicher zu sein, durchkämmte Elphaba eines Tages das leere Quartier der Soldaten. Sie durchwühlte ihre Papiere. In allen Dokumenten ging es um Fragen der Kartierung und der geologischen Vermessung. Um sonst nichts. Es schien keinen heimlichen Plan zu geben, der die Arjikis oder die anderen Stämme des Winkus bedrohte.
    Je früher sie sich aufmachte, umso eher war sie wieder da. Und es war besser, wenn niemand etwas davon wusste. Also erzählte sie allen, sie wolle einige Tage lang im Turm in Klausur gehen und in der Zeit weder Essen noch Besuch haben. Als es Mitternacht schlug, brach sie nach Kolkengrund auf, wo jetzt ihre mächtige Schwester regierte.
    4
    Sie schlief am Tage im Schatten von Feldschuppen, unter überhängenden Traufen, im Windschutz von Schornsteinen. Sie flog nachts. In der Dunkelheit erstreckte sich das Land Oz unter ihr – die Flughöhe betrug nach ihrer Schätzung ungefähr fünfundzwanzig Meter –, und die fließenden Veränderungen der Landschaft hatten etwas voneiner Theaterkulisse auf Rädern. Das schwerste Stück war die Überquerung der Großen Kallen. Sobald sie jedoch die Berge hinter sich hatte, lief das Land in die fruchtbare Schwemmlandebene des Gillikinflusses aus.
    Sie folgte dem Verlauf des Flusses mit seinen Handelsschiffen und Inseln, bis dieser schließlich in den Rastensee mündete, das größte Gewässer von Oz. Sie hielt sich am Südufer und flog über die ölig-seidigen schwarzen Wellen hinweg, die unermüdlich in die Schilf- und Sumpfgebiete schwappten. Sie hatte Mühe, die Mündung des Munchkinflusses zu entdecken, der sich von Osten in den Rastensee ergoss, doch danach war es leicht, die Gelbe Ziegelstraße ausfindig zu machen. Das Ackerland wurde jetzt immer fruchtbarer. Die Folgen der Dürre, die in ihrer Kindheit so furchtbar gewütet hatte, waren überwunden, und Milchbauernhöfe und