Wicked - Die Hexen von Oz
blieb nichts anderes übrig, als einen weiteren Nachmittag zu vertrödeln. Sie besuchte Frex und überredete ihn zu einem Spaziergang über die Zierteiche und die makellosen Rasenflächen hinaus, wo der Wald bis an den hinteren Rand von Kolkengrund heranreichte. Er ging so steif, so langsam, dass es für sie eine Qual war, da sie normalerweise zügig ausschritt. Doch sie hielt sich im Zaum.
»Wie findest du deine Schwester?«, fragte er sie. »Nach all den Jahren. Sehr verändert?«
»Sie war auf ihre Art schon immer selbstbewusst«, antwortete Elphaba zurückhaltend.
»Das habe ich nie gefunden und finde ich auch jetzt nicht«, sagte Frex. »Aber ich glaube, sie hat das gut vorgetäuscht, und jetzt ist es noch besser geworden.«
»Warum hast du mich eigentlich gebeten herzukommen, Papa? Ich habe nicht viel Zeit, weiÃt du. Du musst offen sprechen.«
»Du wärst eine fähigere Eminenz als Nessie«, sagte er. »AuÃerdem ist es dein Geburtsrecht. Ja, ich weiÃ, dass die Erbfolgeregeln deiner Mutter gleichgültig waren. Ich bin schlicht der Meinung, dass das Volk von Munchkinland mit dir an der Spitze besser fahren würde. Nessa ist ⦠zu fromm, falls das überhaupt sein kann. Jedenfalls zu fromm, um eine zentrale Figur im öffentlichen Leben zu sein.«
»Dies ist vielleicht der einzige Punkt, in dem ich nach meiner Mutter komme«, sagte Elphaba, »aber ein ererbter Rang interessiert mich nicht, und es bedeutet mir überhaupt nichts, dass ich die rechtmäÃige Eminenz wäre. Ich habe meiner Stellung in der Familie schon lange abgeschworen. Nessarose hat das Recht, das gleiche zu tun, und dann kann Krott einspringen, wenn man ihn findet. Oder noch besser, der dumme Brauch wird ganz abgeschafft und die Munchkins können sich selbst zu Tode regieren.«
»Ein Staatsoberhaupt kann genauso ein Sündenbock sein wie der geringste Tagelöhner«, sagte Frex. »Aber ich rede von Führungsqualitäten, nicht von Rang und Ehren. Ich rede von den Zeiten, in denen wir leben, und der Arbeit, die getan werden muss. Fabala, du warst von jeher das tüchtigste der Kinder. Krott ist ein draufgängerischer Wichtigtuer, der zur Zeit den Geheimagenten spielt, und Nessie ist ein versehrtes kleines Mädchen â«
»Oh, bitte!«, sagte sie genervt. »Kann das nicht langsam einmal vorbei sein?«
»Für sie ist es nicht vorbei.« Er war beleidigt. »Liegt sie etwa in den Armen eines Geliebten? Bringt sie eigene Kinder zur Welt, führt sie ein erfülltes Leben? Sie versteckt sich hinter ihrer Frömmigkeit, wie sich ein Terrorist hinter seinen Idealen versteckt â« Er sah, wie sie schmerzlich das Gesicht verzog, und verstummte.
»Ich habe Terroristen gekannt, die lieben konnten«, sagte sie kühl, »und ich habe gute Nonnen gekannt, unverheiratet und kinderlos, die für notleidende Menschen wohltätige Arbeit leisteten.«
»Hast du je erlebt, dass Nessa eine intensive Erwachsenenbeziehung mit jemand anderem als dem Namenlosen Gott hatte?«
»Das musst ausgerechnet du sagen«, versetzte sie. »Du hattest zwar Frau und Kinder, aber auf deiner Prioritätenliste kamen sie nach zu bekehrenden Quadlingern.«
»Ich habe getan, was getan werden musste«, sagte er streng. »Ich lasse mich nicht von meiner Tochter belehren.«
»Und ich lasse mich nicht von dir über meine immerwährenden Verpflichtungen gegen Nessie belehren. Ich habe ihr meine Kindheit gegeben, ich habe sie in Shiz eingeführt. Sie hat ihr Leben so, wie es ihr gefällt, und sie hat auch jetzt noch die freie Wahl und einen freien Willen. Das gleiche gilt für ihre Untertanen, die sie absetzen und ihr den Kopf abschlagen können, wenn ihre Gebete ihnen zu lästig werden.«
»Sie ist eine ziemlich machtbesessene Frau«, sagte Frex bekümmert. Elphaba blickte ihn von der Seite an, und zum ersten Mal sah sie, wie kraftlos er war, ein alter Mann von der Art, wie Irji, wenn er lange genug lebte, einer werden würde. Einer, der immer am Rand des Geschehens herummurkste, der reagierte, statt zu agieren, der um die Vergangenheit trauerte und für die Zukunft betete, statt in der Gegenwart etwas zu bewegen.
»Wie ist sie so machtbesessen geworden?«, fragte sie, um Freundlichkeit bemüht. »Sie hat doch zwei rechtschaffene Eltern gehabt.«
Er gab keine
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