Wicked - Die Hexen von Oz
Kind.
Madame Akaber senkte den Kopf zum Zeichen, dass sie fertig war. Ein allgemeines Raunen erhob sich. Galinda, die von Poesie nicht viel verstand, dachte, dies sei vielleicht die gängige Art, sie zu würdigen. Sie brummelte Schenschen etwas zu, die neben ihr auf einem Stuhl saà und leidend dreinschaute. Kerzenwachs drohte auf Schenschens weiÃe Seidenschultern mit den zitronengelben Chiffonbändern zu tropfen und das Kleid höchstwahrscheinlich zu ruinieren, doch Galinda entschied, dass Schenschens Familie es sich leisten konnte, ein Kleid zu ersetzen. Sie blieb stumm.
»Noch ein Dikt«, sagte Madame Akaber.
Stille trat ein â und auch eine leichte Beklommenheit.
Wehe der Sittenlosigkeit,
Dem Untergang der Frömmigkeit.
Zu unserer Gesellschaft Heil
Nehmt ja nicht sinn- und maÃlos teil
An unzüchtiger Lustbarkeit.
Pflegt Klarheit, Schlichtheit, Nüchternheit.
Seid immer sittsam, keusch und traut,
Als ob die Gottheit selbst euch schaut,
Und grüÃet sie mit vollem Klang.
Schwesterlichkeit ein Leben lang
Sei euer höchster, stärkster Drang,
So wird die Tugend recht geehrt,
Und das Gemeinwohl wird gemehrt.
Tiere sollte man sehen und nicht hören.
Wieder gab es ein Gemurmel, aber anders diesmal, ärgerlicher. Doktor Dillamond räusperte sich missbilligend, stampfte mit einem Huf auf den Boden und lieà sich vernehmen: »Also, das ist keine Poesie, das ist Propaganda, und nicht einmal besonders gute.«
Elphaba stahl sich mit ihrem Stuhl nach vorn und stellte ihn zwischen Galinda und Schenschen. Sie schob ihren knochigen Hintern auf die hölzerne Sitzfläche, beugte sich zu Galinda vor und fragte: »Was halten Sie davon?«
Es war das erste Mal überhaupt, dass Galinda von Elphaba in der Ãffentlichkeit angesprochen wurde. Vor Scham versank sie fast im Erdboden. »Keine Ahnung«, sagte sie leise und blickte in die andere Richtung.
»Ziemlich raffiniert, nicht wahr?«, sagte Elphaba. »Der letzte Vers, meine ich. Durch die gezierte Aussprache war nicht zu erkennen, ob Tiere oder Tiere gemeint waren. Kein Wunder, dass Dillamond wütend ist.«
Das war er in der Tat. Doktor Dillamond sah sich im Saal um, als wollte er die Opposition versammeln. »Ich bin schockiert«, sagte er, »zutiefst schockiert«, und marschierte hinaus. Professor Lenx, der Eber , der Mathematik unterrichtete, verlieà ebenfalls den Raum, wobei er versehentlich ein vergoldetes antikes Beistelltischchen ramponierte, als er sich bemühte, nicht auf Damsell Millas gelbe Spitzenschleppe zu treten. Herr Mikko, der Affe mit dem Lehrfach Geschichte, blieb zusammengesunken im Schatten sitzen, weil er zu verwirrt und verunsichert war, um sich von der Stelle zu rühren. »Nun«, sagte Madame Akaber mit lauter Stimme, »Poesie muss Anstoà erregen, wenn sie echt ist. Das ist das Vorrecht der Kunst.«
»Die hat doch einen Knall«, sagte Elphaba. Galinda fand es abscheulich. Wenn bloà niemand Elphaba mit ihr flüstern sah, und sei es einer der pickeligen Jungen! Dann konnte sie sich nirgends mehr erhobenen Hauptes blicken lassen. Ihr Leben war ruiniert. »Pssst, ich will zuhören. Ich liebe Poesie«, zischte Galinda. »Sprechen Sie mich nicht an, Sie verderben mir den Abend.«
Elphaba lehnte sich zurück und aà ihren Apfel auf, und beide hörten weiter zu. Das Grummeln und Murmeln wurde nach jedem Gedicht lauter, und die Jungen und Mädchen begannen sich zu entspannen und nacheinander umzuschauen.
Als das letzte Dikt des Abends verklungen war (mit dem kryptischen Schlussvers »Die Hexâ im Haus erspart den Zimmermann« ), nahm Madame Akaber unter geteiltem Beifall Platz. Sie lieà erst den Gästen, dann den Mädchen und schlieÃlich den Muhmen von ihrem bronzenen Diener Tee bringen. Unter Seidengeraschel und Muschelgeklapper nahm sie Komplimente von den Herren Professoren und einigen der mutigeren Jungen entgegen und bat sie, sich zu ihr zu setzen und ihr die Freude ihrer Kritik zu machen. »Sagen Sie die Wahrheit. Ich war zu dramatisch, nicht wahr? Das ist mein groÃer Fehler. Obwohl mich die Bühne rief, entschied ich mich für ein Leben im Dienst der Mädchen.« Sie schlug bescheiden die Wimpern nieder, während ihre Bewunderer Töne des Bedauerns hören lieÃen.
Galinda war immer noch damit beschäftigt, die peinliche Gesellschaft Elphabas loszuwerden, die sich
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