Wicked - Die Hexen von Oz
der Zauberer von Oz so etwas?«
»In der Tat, warum?«, sagte der Geissbock .
»Nein, die Frage war ernst gemeint. Warum? Ich weià es nicht.«
»Ich weià es auch nicht.« Dillamond wandte sich seinem Pult zu und schob ein paar Papiere hierhin und dorthin, dann angelte er sich ein Taschentuch aus einem Fach und putzte sich die Nase. »Meine GroÃmütter waren Ziegen in einem Milchbetrieb in Gillikin. Durchlebenslanges aufopferungsvolles Arbeiten und Sparen brachten sie das Geld für einen Dorflehrer zusammen, der mich unterrichtete und dem ich in meinen Prüfungen diktieren konnte. Jetzt sieht es so aus, als wären ihre Opfer umsonst gewesen.«
»Aber Sie können doch noch unterrichten!«, sagte Fanny ungehalten.
»Noch«, sagte der Geissbock und entlieà die Klasse vorzeitig. Galinda blickte unwillkürlich zu Elphaba hinüber, die eine eigentümlich konzentrierte Miene machte. Als Galinda den Hörsaal verlieÃ, sah sie Elphaba nach vorn treten, wo Doktor Dillamond stand und am ganzen Leib zitterte, den gehörnten Kopf gesenkt.
Wenige Tage später hielt Madame Akaber einen ihrer gelegentlichen öffentlichen Vorträge, diesmal über »Frühe Choräle und heidnische Päane«. Sie forderte zu Fragen auf, und zum Erstaunen der ganzen Versammlung entrollte sich Elphaba in der hintersten Reihe aus ihrer üblichen Embryonalhaltung und wandte sich an die Rektorin.
»Bitte, Madame Akaber«, sagte Elphaba, »wir hatten nie die Gelegenheit, über die Dikte zu diskutieren, die Sie vorige Woche im Salon vorgetragen haben.«
»Diskutieren Sie!«, sagte Madame Akaber mit einer kurzen Bewegung ihrer bereiften Hand, bei der man nicht sagen konnte, ob sie auffordernd oder abwehrend gemeint war.
»Doktor Dillamond schien sie in Anbetracht der eingeschränkten Bewegungsfreiheit für Tiere ein wenig geschmacklos zu finden.«
»Doktor Dillamond«, entgegnete Madame Akaber, »ist nun einmal Biologe. Er ist kein Dichter. Er ist auÃerdem ein Geissbock , und ich möchte die versammelten jungen Damen fragen, ob es jemals einen groÃen Sonett- oder Balladendichter gegeben hat, der ein Geissbock war. Leider, liebe Damsell Elphaba, versteht Doktor Dillamond das dichterische Stilmittel der Ironie nicht. Wären Sie vielleicht so gut, uns Ironie zu definieren?«
»Ich glaube nicht, dass ich das kann, Madame.«
»Ironie, sagt man, ist die Kunst, unvereinbare Aussagen nebeneinanderzustellen. Man braucht dazu eine intellektuelle Distanz. Ironie setzt Abstand voraus, etwas, woran es Doktor Dillamond beim Thema der Rechte der Tiere verzeihlicherweise mangelt.«
»Der Satz, an dem er Anstoà nahm â Tiere sollte man sehen und nicht hören  â, war demnach ironisch?«, hakte Elphaba nach, den Blick auf ihre Papiere und nicht auf Madame Akaber gerichtet. Galinda und ihre Kommilitoninnen lauschten gebannt, denn es war klar, dass die beiden Frauen an den verschiedenen Enden des Saals nichts lieber gesehen hätten, als wenn die andere plötzlich mit einem Herzanfall zusammengebrochen wäre.
»Man könnte ihn ironisch verstehen, wenn man wollte«, sagte Madame Akaber.
»Und wollen Sie?«, fragte Elphaba.
»Wie impertinent!«, rief Madame Akaber aus.
»Ich wollte nicht impertinent sein. Ich versuche zu begreifen. Wenn der Satz nach Ihrer Meinung â oder der von sonst jemand â wahr wäre, dann stünde er nicht im Widerspruch zu den langweiligen, rechthaberischen Versen vorher. Dann wäre es lediglich ein Fall von Prämisse und Schluss, und ich könnte die Ironie nicht sehen.«
»Sie können vieles nicht sehen, Damsell Elphaba«, sagte Madame Akaber. »Sie müssen lernen, sich in jemand Klügeren und dessen Perspektive hineinzuversetzen. In der Unwissenheit zu verharren, sich von den Wänden des eigenen bescheidenen Verstandes einengen zu lassen, ist ein überaus trauriges Schauspiel, wenn man so jung ist und so grün.« Sie spuckte das letzte Wort förmlich aus, und Galinda empfand es als eine ausgesprochen gehässige Spitze gegen Elphabas Haut, die durch die Aufregung des öffentlichen Sprechens heute in der Tat besonders auffallend glänzte.
»Ich habe doch versucht, mich in Doktor Dillamond hineinzuversetzen«, sagte Elphaba beinahe jammernd, aber ohne aufzugeben.
»Was die Interpretation von Gedichten betrifft,
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