Wicked - Die Hexen von Oz
über sich ergehen lassen müssen!«, sagte Fanny innig und drückte Galinda die Hand.
3
An dem Tag, als der erste Schnee fiel, veranstaltete Madame Akaber einen Poesieabend. Jungen vom Drei-Königinnen und den Ozma-Türmen waren eingeladen. Galinda kam in ihrem kirschroten Seidenkleid, Tuch und Schuhe farblich darauf abgestimmt, und mit einem gillikinesischen Fächer, einem mit Farnen und Phönixen bemalten Familienerbstück. Sie erschien rechtzeitig, um sich genau den Polstersessel aussuchen zu können, der ihre Garderobe am besten zur Geltung brachte, und sie schleifte den Sessel zu den Bücherregalen hinüber, damit sie im milden Licht der Bibliothekskerzen sitzen konnte. Die übrigen Mädchen â vom ersten bis zum letzten Semester â traten als groÃe wispernde Traube ein und verteilten sich auf die Sessel und Sofas des schönsten Salons im Grattler-Kolleg. Die Jungen, die kamen, waren eher enttäuschend: Es waren nicht viele, und sie blickten beklommen oder kicherten untereinander. Dann stellten sich die Professoren und Dozenten ein, nicht nur die Tiere aus dem Grattler-Kolleg, sondern auch die Lehrkräfte der Jungen, die gröÃtenteils Männer waren. Jetzt waren die Mädchen doch froh, dass sie sich feingemacht hatten, denn auch wenn die Jungen ein pickeliger Haufen waren, hatten die Professoren würdevolle und charmante Mienen aufgesetzt.
Sogar einige Muhmen erschienen, doch sie verzogen sich hinter einen Schirm am Ende des Raums. Das Geräusch ihrer emsigen Stricknadeln empfand Galinda als irgendwie beruhigend. Sie wusste, dass Muhme Schnapp in der Nähe war.
Die Flügeltür am Ende des Salons wurde von dem kleinen bronzenen Automaten aufgestoÃen, dem Galinda an ihrem ersten Abend im Grattler-Kolleg begegnet war. Er war zu dem Anlass eigens gewartet worden; er strömte noch den beiÃenden Geruch von Metallpolitur aus. Dann hatte Madame Akaber ihren Auftritt. Sie lieà ein ebenso strenges wie auffallendes schwarzes Cape zu Boden fallen (das Männlein hob es auf und hängte es über eine Sofalehne), woraufhin ein Kleid in feurigem Orangeton zum Vorschein kam, über und über mit groÃen Seemuscheln besetzt. Wider Willen musste Galinda den Effekt bewundern. Noch salbungsvoller als sonst hieà Madame Akaber die Besucher willkommen und erhielt höflichen Applaus für ihre Ankündigung, über »Die Poesie und ihre zivilisierende Wirkung« sprechen zu wollen.
In ihrem Vortrag verbreitete sie sich über die neue Gedichtform, die dabei war, die Salons und Literatenzirkel von Shiz im Sturm zu erobern. »Sie nennt sich Dikt«, erklärte Madame Akaber mit einem hoheitsvollen Lächeln, das ein eindrucksvolles Gebiss entblöÃte. »Das Dikt ist ein kurzes Gedicht von erbaulicher Art. Es hat dreizehn knappe Verse, die von einem reimlosen Apophthegma abgeschlossen werden. Der Reiz des Gedichts besteht in dem beziehungsreichen Kontrast zwischen dem gereimten Thema und der abschlieÃenden Bemerkung. Es kann vorkommen, dass sie sich widersprechen, aber das Ziel ist stets, dass sie das Leben erhellen und, wie alle Poesie, verklären.« Sie strahlte wie ein Leuchtfeuer im Nebel. »Gerade heute Abend könnte ein Dikt das Unbehagen über die unerfreulichen Unruhen in unserer Hauptstadt lindern, von denen wir hören.« Die Jungen blickten immerhin gespannt, und alle Professoren nickten, doch Galinda merkte, dass keine der Studentinnen eine Ahnung hatte, von welchen »unerfreulichen Unruhen« Madame Akaber redete.
Eine ältere Studentin am Hammerklavier klimperte ein paar Akkorde, und die Gäste räusperten sich mit gesenkten Blicken. Galinda sah Elphaba in ihrem üblichen roten Alltagskleid den Raum betreten, zwei Bücher unter dem Arm und einen Schal um den Kopf gewickelt. Sie lieà sich auf den letzten freien Stuhl sinken und biss in einen Apfel, als Madame Akaber gerade dramatisch Atem holte, um zu beginnen.
Rühmet die Rechtschaffenheit,
Und übt Fortschrittsgläubigkeit.
Zeiget tiefe Dankbarkeit
Für strengste Allgeregeltheit.
Zur Förderung der Einigkeit
In Brüder- und Schwesterlichkeit
Lobpreisen wir die Obrigkeit.
O Brüder, Schwestern, alle Zeit
Sind wir zur Einschränkung bereit
Der maÃlosen Freizügigkeit.
Denn keine Numinosität
Bezähmt wie die Autorität
Die üble Bestialität.
Wer die Rute führt, erzieht das
Weitere Kostenlose Bücher