Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
nicht? Meine früheren Forschungen waren kaum mehr als eine intellektuelle Übung. Ich habe Gefallen daran gefunden, mit gewissen Vorstellungen zu spielen, um die Dinge aus einer anderen Perspektive zu se hen und die eingleisige Denkweise in der historischen Fakultät in Frage zu stellen.«
»Jetzt untertreibst du, Vater. Es steckte weitaus mehr dahinter.«
Der Professor brummte. »Ja, vielleicht hast du recht … Wie dem auch sei: Tief in meinem Innern habe ich es nie für möglich gehalten, daß ein solches Wesen tatsächlich existiert. Und nicht einmal im Traum hätte ich daran gedacht, einem Geschöpf wie Molasar zu begegnen, es mit eigenen Augen zu sehen!« Seine Stimme war nur noch ein rauhes Flüstern, als er hinzufügte: »Er ist stark und mächtig, und doch fürchtet er sich vor …«
Magda wartete darauf, daß er den Satz beendete, aber der alte Mann sprach nicht weiter. Er starrte ins Leere und taste te mit der rechten Hand geistesabwesend in die Brusttasche des Mantels.
»Wovor fürchtet er sich, Vater?«
Der Professor schauderte plötzlich und reagierte nicht auf die Worte der jungen Frau. Die Hand steckte noch immer in der Tasche. »Molasar ist das Unheil selbst, Magda. Ein mit übernatürlichen Kräften ausgestatteter Parasit, der sich von menschlichem Blut ernährt. Bei ihm hat das Böse Substanz. Aber was ist mit dem Gegenpol? Was ist mit dem Guten?«
»Was soll das heißen?« erwiderte Magda verwirrt. »Ich verstehe nicht …«
Theodor Cuza zog einen Gegenstand aus der Tasche und hielt ihn dicht vor Magdas Gesicht. »Ich meine das hier!«
Sie sah das silberne Kreuz, das sie sich von Wörmann geliehen hatte. Warum führte es ihr Vater bei sich? Und weshalb schienen seine Augen von innen heraus zu glühen?
» Davor hat Molasar Angst!«
»Na und?« entgegnete die junge Frau verwundert. »Die Überlieferungen betonen immer wieder, daß Vampire vor Kreuzen …«
»Überlieferungen! Magda, wir haben es nicht mit irgendwelchen Sagen und Legenden zu tun, sondern mit greifbarer Wirklichkeit! Dieses Symbol hat Molasar entsetzt ! Er wich erschrocken zurück, als er es sah, und wäre fast aus dem Zimmer geflohen.«
Plötzlich begriff Magda, was ihren Vater so sehr erschütterte.
Der Professor merkte ihren Gesichtsausdruck und nickte langsam.
»Es ist unmöglich, daß …« Die junge Frau brach ab.
»Wir dürfen nicht die Augen vor einer Tatsache verschließen.« Cuza hob das Kreuz und beobachtete, wie sich das Sonnenlicht auf dem Silber widerspiegelte. »Es ist ein wichtiger Teil unseres Glaubens, daß Christus nicht der Messias war und daß wir nach wie vor auf den Heiland warten. Wir sehen Jesus nur als einen Menschen, der gutgläubige, aber eben irregeleitete Anhänger gewinnen konnte. Wenn das stimmt …« Sein Blick klebte an dem kleinen Gegenstand fest. »Wenn Christus wirklich ein gewöhnlicher Mensch war … Warum hatte Molasar – zweifellos ein Wesen des Bösen – solche Angst vor dem Kreuz, das Jesu Tod symbolisiert? Warum?«
»Wir sollten uns hüten, voreilige Schlußfolgerungen zu ziehen«, warf Magda hastig ein. »Bestimmt gibt es eine andere Erklärung.«
»Meinst du? Überleg mal: Das Kreuz wird in den alten Sagen und Legenden immer wieder als wirkungsvoller Vampirbann erwähnt. Aber hat irgend jemand von uns einen Gedanken darauf verschwendet? Unheilvolle Wesen fürchten das Kreuz. Aus welchem Grund? Weil es das Gute und menschliche Hoffnung symbolisiert. Und daraus ergeben sich Konsequenzen von bisher noch unüberschaubarer Tragweite.«
Ist das möglich? dachte Magda. Ist das wirklich möglich?
Theodor Cuzas Stimme klang monoton, als er fortfuhr: »Wenn ein Geschöpf wie Molasar dieses Symbol so abscheulich und widerwärtig findet, ergibt sich daraus nur ein logischer Schluß. Dann muß Christus mehr gewesen sein als nur ein Mensch. Und wenn das stimmt, gründen sich die Traditionen des Judentums auf eine völlig falsche Basis. Dann ist der Messias wirklich gekommen – und wir haben ihn nicht als Sohn Gottes erkannt!«
»Das ist doch … absurd!« platzte es aus Magda heraus. »Ich weigere mich, eine solche Annahme in den Bereich des Möglichen zu ziehen. Es muß eine andere Erklärung geben!«
»Du warst nicht dabei. Du hast nicht gesehen, wie sich Molasars Gesicht in eine Fratze des Entsetzens verwandelte, als ich das Kreuz hervorholte. Du hast nicht gesehen, wie er zurückwich und sich duckte , bis ich es ins Kästchen zurücklegte. Es hat Macht über ihn! «
Diese
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