Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
Nachdem er ähnlich wie bei dem Hämatologen vorgegangen war, gab der Dermatologe zögernd zu: »Ja. Das Haar wächst wieder. Gleichmäßig auf der ganzen Kopfhaut.«
»Hat sie etwas von einem Dr. Bulmer erzählt?«
»Natürlich. Wenn man Laurie und ihrer Mutter glaubt, wird dieser Quacksalber demnächst die Toten wieder zum Leben erwecken.«
»Sie meinen, er ist ein Betrüger?«
»Natürlich ist er das! Diese Burschen gründen ihren Ruf auf Placeboeffekten und spontanen Remissionen. Das Einzige bei diesem Bulmer, das nicht in das gewöhnliche Schema passt, ist seine Gebühr.«
»Ach, wirklich?« Charles hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, wie viel Bulmer für diese »Heilungen« abkassiert hatte. »Wie viel nahm er denn?«
»Seine übliche Praxisgebühr: Fünfundsechzig Dollar. Ich konnte es nicht glauben, aber die Mutter schwor mir, dass es alles war. Ich denke, Sie haben da einen wirklichen Spinner in Behandlung. Er glaubt wohl tatsächlich, dass er diese Heilungen bewirken kann.«
»Könnte sein«, sagte Charles. Er fühlte sich sehr müde. »Danke.«
Mit stetig wachsender Unruhe rief er noch fünf weitere Ärzte an. Es war immer die gleiche Geschichte: völlige, spontane Remission.
Schließlich brachte er es nicht mehr über sich, noch eine weitere Nummer zu wählen. Jeder der Ärzte hatte jeweils nur eine Begegnung mit einem ›bulmerisierten‹ Patienten gehabt und den Vorfall als glücklichen Zufall abgeschrieben. Aber Charles hatte einen Haufen von Namen und Adressen, und was Bulmer betraf, so ging es wahrscheinlich um mehr als tausend Patienten.
Charles bekämpfte ein plötzliches Verlangen, den Umschlag in den Papierkorb zu werfen, gefolgt von einem brennenden Streichholz. Wenn es stimmte, was Bulmer über sein schlechter werdendes Gedächtnis sagte, würde er sich kaum an die Daten erinnern können. Sie wären für immer weg. Und dann könnte sich Charles sicher fühlen.
Er grinste bei dem Gedanken: Charles Axford, der unbarmherzige Forscher und Verfechter der wissenschaftlichen Wahrheit, vernichtete Daten, um sich vor dem Zusammenbruch all seiner vorgefassten Meinungen, der Widerlegung seiner wertvollen Weltanschauung zu schützen.
Es war eine völlig abscheuliche Idee, aber andererseits auch so verführerisch.
Denn die heutigen Ereignisse – erst Knopf und dann diese Telefongespräche mit der ununterbrochenen Reihe von »spontanen Remissionen« machten Charles krank. Ihm war übel, weil seine Gedanken immerzu im Kreis rasten.
Wenn er die Daten vernichtete, könnte er sich sicherlich einreden, dass sie nie existiert hatten.
Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde er sich von dem, was er heute erlebt hatte, niemals erholen.
In diesem Fall blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sache durchzustehen und weiterzumachen.
Er sah noch einmal sehnsüchtig zum Papierkorb, dann steckte er Bulmers Aufzeichnungen wieder in den Umschlag. Er verschluss sie in seinem Bürosafe, als seine Sekretärin den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Kann ich jetzt gehen?«
»Sicher, Marnie.« Sie sah so müde aus, wie er sich fühlte.
»Brauchen Sie noch etwas, bevor ich gehe?«
»Haben Sie ein Rennie?«
»Probleme mit dem Magen?«, fragte sie und zog ihre Augenbrauen besorgt zusammen. »Sie sehen blass aus.«
»Mir geht es gut. Es bekommt mir nur nicht, zu Kreuze zu kriechen.«
»Wie bitte?«
»Nichts, Marnie. Gehen Sie nach Hause. Vielen Dank, dass Sie so lange geblieben sind.«
Wie konnte er ihr oder einem anderen erklären, was in ihm vorging? Er kam sich vor wie der erste Astronaut im Weltraum, der auf die Erde herunterblickt und sieht, dass die Erde eine Scheibe ist.
37. Sylvia
»Was ist los, Jeffy?«
Sie hatte ihn im Schlaf wimmern gehört. Als sie in sein Zimmer trat, sah sie ihn am Schlafanzug und am Hals kratzen. Sie ging zu ihm. Er hatte niemals Neigung zu Selbstzerstörung oder Selbstverstümmelung gezeigt, aber sie hatte darüber bei autistischen Kindern gelesen. In dem Maß, in dem er immer weiter retardierte, fürchtete sie bei jeder Änderung sofort das Schlimmste.
Sie zog seine Hände weg und sah die Striemen am Hals. Als sie seine Pyjamajacke hob, sah sie noch mehr davon.
Nesselausschlag.
An seinen Mahlzeiten hatte sich nichts geändert, und sie hatte Waschpulver und Weichspüler nicht gewechselt. Ihr fiel nur eines ein, was neu war – das neue Medikament von der Stiftung.
Sylvia ließ sich neben Jeffy aufs Bett sacken. Sie wollte weinen. Gab es denn gar nichts,
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