Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
autistisch sei und eine gewaltige finanzielle, psychologische und emotionale Belastung darstellen würde. Jeffys gesamte Verhaltensskala erstreckte sich auf Hin- und Herschaukeln, Vor-sich-hin-Summen, Essen, Schlafen, Urinieren und Stuhlgang. Er sah eine andere Person niemals direkt an, er richtete seinen Blick immer nur links oder rechts an der Person, die ihn ansah, vorbei, so als sei da ein unbelebtes Objekt, das seine Sicht behinderte. Die einfachsten Entlohnungen der Mutterschaft, Dinge wie die normale Rückgabe von Liebe und Zuneigung, mit der man ein Kind überschüttete, würden ihr vorenthalten bleiben.
Aber Sylvia hatte nicht zugehört. Sie hatte gewusst , dass sie Jeffy erreichen konnte.
Und sie hatte es geschafft.
Während sie darauf wartete, dass die Mühlen der Justiz Jeffy verarbeiteten und zur Adoption freigaben, hatte sie ihn als Pflegekind bei sich aufgenommen. Sie hatte sich in seine Pflege vertieft, ihre Nächte damit verbracht, jedes verfügbare Buch über Autismus zu lesen, tagsüber seine Umgebung strukturiert und die Theorien angewandt, von denen sie nachts gelesen hatte. Verhaltensmodifikations-Techniken bewährten sich am besten bei Jeffy.
Die Sitzungen waren anfangs zermürbend gewesen. Endlose Wiederholungen, positive Bestärkung jedes winzigen Bruchteils einer gewünschten Reaktion, Aufbau eines Verhaltensrepertoires – es war eine anscheinend unmögliche Aufgabe. Aber Sylvias Bemühungen hatten Erfolg. Sie lächelte jetzt und erlebte einen Hauch der Freude wieder, die sie empfunden hatte, als Jeffy ganz allmählich anfing, zu sich zu kommen, zu reagieren. Dr. Chase und ihre Kollegen an der Stanton-Schule waren verblüfft gewesen. Sylvia und Jeffy wurden dort zu Berühmtheiten.
Der Traum eines kleinen Jungen mit geöffneten Augen, der über den Rasen auf sie zurennt, schien doch noch Wirklichkeit zu werden. Bis zum letzten Winter.
Sie fühlte, wie sich ihre Lippen spannten, als ihr Lächeln verdorrte.
Jeffy war niemals dem nahegekommen, was ein »nor males Kind« ist – was auch immer das sein mochte –, aber er hatte angefangen, so weit auf Leute zu reagieren, dass er aufsah, wenn jemand das Zimmer betrat – etwas, was er anfangs nicht getan hatte. Er reagierte stärker auf Tiere und unbelebte Objekte, was sogar so weit ging, dass er begann, mit Mess und Polyphem zu spielen. Er sprach sogar ein paar Worte in die leere Luft. Er redete nie zu einem Menschen, aber das zeigte zumindest, dass die Fähigkeit zu sprechen vorhanden war. Sylvia hatte das Gefühl, dass sie sich kurz vor dem Durchbruch befanden, als Jeffy plötzlich begann, sich psychisch zurückzuentwickeln.
Diese Entwicklung setzte so schleichend ein, dass Sylvia sich lange geweigert hätte zuzugeben, dass es geschah. Schließlich musste sie widerstrebend einsehen, dass Jeffy an Boden verlor. Sie hatte inbrünstig gehofft, dass sie sich irrte, aber Dr. Chase hatte es auch bemerkt. Sie hatte in dieser Woche eine Verhaltenseinschätzung bei Jeffy vorgenommen, und die Ergebnisse waren heute fällig.
»Die Ergebnisse sind leider nicht gut«, sagte Sara Chase ohne Umschweife, als Sylvia auf dem Stuhl neben dem Schreibtisch Platz nahm.
Sara war eine gutmütig wirkende Frau um die fünfzig mit Pausbacken und dünnem braunen Haar. Sie benutzte nie Schminke und hatte vielleicht zwanzig Pfund Übergewicht. Vor langer Zeit hatte sie Sylvia bereits angewiesen, sie nicht ›Doktor Chase‹ zu nennen.
Sylvia sank tiefer in ihren Stuhl. Sie biss sich auf die Lippe, um ein Zittern zu verhindern. Ihr war nach Weinen zumute. »Ich habe alles getan. Alles.«
»Das weiß ich. Die Fortschritte, die er bei Ihnen erzielte, waren unglaublich. Aber …«
»Aber ich habe nicht genug getan, stimmt’s?«
»Falsch!«, sagte Sara streng, als sie sich über ihren Schreibtisch nach vorn beugte. »Ich lasse nicht zu, dass Sie sich die Schuld geben. Autismus ist eine Entwicklungsstörung, deren Schwere in Kurven verläuft, deren Wendepunkte nicht vorhersehbar sind. Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Sie wissen fast genauso viel darüber wie ich.«
Sylvia seufzte. Sie wusste, dass sie alles getan hatte, was man für Jeffy tun konnte, aber es war nicht genug gewesen.
»Und Jeffys Kurve ist auf dem absteigenden Ast, nicht wahr?«
Sara nickte.
Sylvia schlug mit der Faust gegen die Armlehne. »Da ist ein lieber kleiner Junge eingesperrt und kann nicht rauskommen! Das ist nicht fair!«
»Oh«, sagte Sara in einem besänftigenden Tonfall,
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