Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
habe ich das verdient?«, fragte sie gerührt.
»Weil du es mit mir aushältst.«
»Sei nicht albern.«
»Nein. Ich meine das wirklich. Ich weiß, ich bin ziemlich fanatisch, wenn es darum geht, meine Wurzeln zu finden. Das muss eine Qual für dich sein. Also danke, dass du mir beistehst – so wie du es immer tust.«
»Was dir wichtig ist, ist auch mir wichtig.«
»Das sagt sich so leicht. Ich meine, aussprechen kann das jeder, aber du meinst es auch so.«
»Das liegt daran, dass es einfach ist, wenn man jemanden liebt.«
»Ich bin mir da nicht so sicher. Du hast mich ermutigt, weiter Romane zu schreiben, die niemand publizieren will …«
»Das ist nur eine Frage der Zeit.« Sie wollte nicht, dass er jemals mit dem Schreiben aufhörte, egal wie viele Absagen er bekam.
»Hoffen wir das. Aber wichtig ist doch, dass du mir nie das Gefühl gibst, es lohne sich nicht, oder dass du die Geduld mit mir verlierst. Du hast es mir noch nie vorgehalten, nicht einmal, wenn wir uns gestritten haben.«
Sie blinzelte ihn schelmisch an. »Das ist eine Investition. Ich weiß, dass du früher oder später ein reicher und berühmter Autor sein wirst, und dann sollst du natürlich das Gefühl haben, dass du das alles mir verdankst.«
»Da stecken also finanzielle Motive dahinter? Nun, ich glaube, da werde ich doch besser – he, warte mal einen Augenblick!«
Er ließ plötzlich ihre Hand los und fuhr mit der Gabel durch die Überreste seiner Muschelsauce. Er fischte ein kleines rundes Stückchen Knoblauch heraus und legte es ihr auf den Teller.
»Findest du nicht, dass das wie eine Warze aussieht?«
»Das reicht jetzt!«, sagte sie und schnappte ihm die Chianti-Flasche vor der Nase weg, als er danach greifen wollte.
»Was?« Er wirkte verblüfft. »Was habe ich gesagt?«
»Zeit für Kaffee!«
Er strahlte. »Mit Sambuca?«
»Schwarz und ohne alles. Espresso!«
»Igitt!«
5.
Grace war während der Probe gut bei Stimme. Sie lauschte auf die Töne aus ihrer Kehle, die sich mit dem tiefen Dröhnen der Orgel mischten und in den Gewölben der St. Patricks Cathedral widerhallten. Sie traf die hohen Töne mit einer Ausdruckskraft, die sogar für sie außergewöhnlich war. Ave Maria war ihre liebste Hymne. Sie hatte darum gebeten, das Solo singen zu dürfen und es war ihr gewährt worden. Jetzt zeigte sie allen, dass das eine gute Entscheidung gewesen war.
Sie war sich bewusst, dass die anderen Mitglieder des Chors hinter ihr auf den Kirchenbänken sitzen geblieben waren und zuhörten. Dies fügte ihrer normalen Freude, den Herrn durch ein Lied zu preisen, noch persönlichen Stolz hinzu, denn meistens war es so, dass während der Übungsphase des Solosängers die anderen für eine Zigarette nach draußen gingen oder sich in einer stillen Ecke leise unterhielten. Nicht dieses Mal. Sie hörten gebannt zu, wie sie sang.
Sie habe eine gehaltvolle Stimme, hatte der Chorleiter ihr gesagt. Grace gefiel dieser Ausdruck. Sie hatte eine ausdrucksstarke, gehaltvolle Stimme, die zu ihrem kompakten gehaltvollen Körper passte. Sie hatte einen großen Teil ihrer Freizeit in den letzten zwanzig Jahren ihres 53 Jahre währenden Erdenlebens dem Kirchenchor gewidmet und diese Jahre der Übung trugen jetzt schließlich Früchte. Ihr Ave Maria würde der Höhepunkt der Ostermessen sein.
Grace verlor sich in der Verzückung des Liedes, legte alles hinein … bis ihr auffiel, dass der Organist die Begleitung eingestellt hatte. Sie drehte sich um und sah die entsetzten Gesichter der anderen Chormitglieder.
Und dann hörte sie es: eine hohe, deutliche konturierte Stimme, die durch die ansonsten stille Kirche hallte, und mit einfacher, sich stetig wiederholender Melodie sang, fast eine Art Mantra. Eine Viertelnote, gefolgt von zwei Achteln, dann wieder eine Viertelnote. Sie erfasste die Melodie in ihrem Kopf. Fa-re-fa-mi … fa-re-fa-mi …
Dann hörte sie die Worte: »Satan ist da … Satan ist da … Satan ist da …« Immer wieder.
Wer war –?
Und dann wurde Grace klar, dass es ihre eigene Stimme war, die so hoch und so rein sang, und sie konnte nicht damit aufhören. Die Verzückung war immer noch da, aber es gesellte sich der Schrecken dazu, als die Stimme weitersang, schneller und schneller.
»Satan ist da … Satan ist da … Satan ist da …«
6.
Es war warm im Wagen. Während Jim neben ihr döste, blinzelte Carol, um wach zu bleiben, während sie den alten Rambler über die 3rd Avenue Richtung Queensboro-Brücke
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