Wie angelt man sich einen Earl
nachsichtigen Ton. Zumindest würde sie sich das ab sofort einreden, vielleicht wurde dann alles leichter.
Es war lange nach Mitternacht, als Rafe auf einer kleinen Anhöhe in einiger Entfernung zum Haupthaus stand. Der dunkle, tiefe See auf der einen und ein dichter Wald auf der anderen Seite flankierten das Pembroke Anwesen und trennten es von der hohen Bergkette, die tagsüber die wilde Landschaft dominierte. In der Dunkelheit konnte er das eindrucksvolle Felsenmassiv nicht sehen. Mit geschlossenen Augen genoss Rafe den kühlen Wind, der über sein Gesicht strich und zwischen den hohen Bäumen wisperte.
Er liebte dieses Land mit einer Leidenschaft und Ausschließlichkeit, die an Verzweiflung grenzte. Kein Gefühl kam dem gleich. Diese Liebe war es, die seine Existenz rechtfertigte, ihm Antrieb gab und so lebensspendend war wie die reine, klare Luft, die seine Lungen füllte. Noch gut erinnerte er sich an seine Kindheit inmitten der dunklen Wälder. Pembroke Land, soweit das Auge reichte – Land, das er begeistert an der Seite seines Vaters durchwandert hatte, in den guten Jahren vor dessen Tod. Nie war er glücklicher gewesen als zu den Zeiten, in denen sie den frisch gefallenen unberührten Schnee mit ihren Fußabdrücken gezeichnet oder im Frühjahr inmitten des leuchtend gelben Ginsters eine Rast eingelegt hatten.
Diese Tage hatten zu den besten seines Lebens gehört.
Bevor er die Wahrheit über die restlichen Familienmitglieder erfahren hatte und erkennen musste, wie wenig ihnen an ihm lag. Lange bevor er alles verlor, was ihm in der Armeezeit etwas bedeutet hatte, und bevor er die bittere Wahrheit über sich selbst akzeptieren musste …
Rafe wandte den Blick von dem dunklen Waldsaum zum nächtlichen Sternenhimmel empor und dann auf sein Heim und das erleuchtete Fenster der Countess-Suite . Wie alle Hausherrinnen vor ihr hatte auch seine Mutter dort residiert. Unwillkürlich fragte er sich, was wohl die gegenwärtige Countess of Pembroke gerade tun mochte, in den Räumen, die er seit Jahren gemieden hatte. Genauer gesagt, seit dem Tod seiner Mutter.
Ob Angel ihm je vergeben würde, dass er sie hierhergebracht hatte? Für eine eingefleischte Städterin wie sie musste dieser Ort ein Albtraum sein. Aber warum machte er sich überhaupt Gedanken darüber? Immerhin hatte er sie nicht geheiratet, um ihr zu gefallen, sondern den Fortbestand seines Geschlechts zu sichern.
Energisch schob Rafe das unbequeme Thema zur Seite und richtete den Blick auf den Ostflügel von Pembroke Manor oder auf das, was davon übrig geblieben war.
„Wie amüsant, dass du vergessen hast, das zu erwähnen, als es um deinen altehrwürdigen, ach so stolzen Familiensitz ging“, hatte Angel in ihrer trockenen Art gesagt, als sie bei ihrer Ankunft aus dem Wagen stieg und mit erhobenen Brauen ihr neues Heim begutachtete. „Was du meintest, war wohl die intakte Hälfte des Hauses, oder? Wie bedacht von dir, dieses winzige Detail zu verschweigen, bis deine Ehefrau die Ruine, die du dein Heim nennst, selbst in Augenschein nehmen kann.“
„Freut mich, festzustellen, dass du deinen Kampfgeist wiedergefunden hast“, lautete seine Antwort auf diese Provokation. „Ganz zu schweigen von deiner scharfen Zunge.“
„Ich kann nur hoffen, dass die Dachkonstruktion hält“, fuhr Angel unbeeindruckt in ihrer Mängelliste fort, wobei ihre blauen Augen herausfordernd blitzten. „Leider habe ich nicht daran gedacht, meinen Werkzeugkoffer einzupacken.“
Rafe lächelte in Erinnerung an den prachtvollen Anblick, den sie in ihrer gerechten Empörung geboten hatte. Er nahm ihr die Kritik nicht einmal übel, aber in seinen Augen war Pembroke Manor keine Ruine. Trotzdem hatte er seiner Frau nicht widersprochen. Das Baugerüst war zwar längst errichtet worden, konnte aber nicht verbergen, dass der Ostflügel nur noch ein Gerippe seiner selbst war.
Jahrhundertealte Architektur, zerstört in einer einzigen Nacht. Unschätzbar wertvolle Kunstobjekte und Gemälde, ganz zu schweigen von Rafes liebsten Erinnerungen an die Zeiten, als er mit einem spannenden Buch im Arbeitszimmer seines Vaters auf dem dicken Teppich vor dem Kamin gelegen hatte, während sein Dad an dem imposanten Schreibtisch gesessen und gearbeitet hatte.
Alles war im Feuer vernichtet worden … kalte Asche, vom Winde verweht.
Er würde den Flügel wieder aufbauen, das hatte er sich nicht nur einmal geschworen. Er wollte alles richtig machen, so wie es immer hätte sein sollen. Ein
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