Wie ausgewechselt
draußen ab. In unserem Block lebten viele Kinder. Da war immer was los«, erzählt Schwester Karin. »Ich bin auf der Straße Rollschuh gelaufen, habe da meine Kunststücke gemacht. Oder wir spielten im Wald, im Katzenbusch, der direkt vor unserer Tür lag. Die Mädchen durften nicht Fußball spielen, das war damals verpönt.«
Im Katzenbusch liegt auch der Fußballplatz der Spielvereinigung Herten, auch die Grün-Weißen genannt.
»Ich musste nur über die Straße laufen. Die Kampfbahn der Grün-Weißen war im Wald. Da lagen auch noch Trümmerreste auf den Plätzen, egal. Einer der Väter hatte aus Holz zwei Tore gezimmert, oder wir haben Holzlatten zwischen die Bäume gelegt und dann gepöhlt, wie wir im Pott sagen. Fußball, Fußball, Fußball – für uns gab es damals nichts anderes.«
Fußball liegt der Familie im Blut. Onkel Karl war 1928 sogar Westfalenmeister mit der Spielvereinigung Herten. Die halbe Verwandtschaft – und die war groß – interessiert sich für Fußball. Der ältere Bruder spielt schon in der Spielvereinigung, wechselt später zu Westfalia Herne und Wanne-Eickel. Er ist ein großes Vorbild für Rudi. Viele Fußballkenner halten Lothar für den besseren Spieler der beiden Brüder, doch Meniskusprobleme beenden seine Karriere, und er wird Sportinvalide. Schwester Karin macht Leichtathletik.
»Wenn die Schule zu Ende war, habe ich zu Hause mein Zeug in ’ne Ecke geschmissen, schnell was gegessen, und dann ging es ab zum Fußballspielen. Das waren Straßenkämpfe, mein lieber Herr Gesangsverein. Die Jungens von der Augustastraße, also meine Truppe, gegen die von der Herner Straße. So was wie Lederbälle hatten wir nicht, entweder so ’ne Gummikugel oder einen Stoffball aus alten Kleidungsstücken. Schwer waren die Dinger! Das hat richtig wehgetan, wenn dir eine Kugel an den Kopf flog, da gab’s hin und wieder ’ne schöne Beule. Ich weiß noch genau: Als irgendwann mal einer der Jungs einen Lederball zu Weihnachten bekam, war das die Sensation schlechthin. Jeden Tag haben wir gekickt, bis es dunkel wurde. Zu Hause gab’s dann Schimpfe, weil ich von oben bis unten verdreckt war. Die Sachen hat Mama Else erst in der Badewanne eingeweicht und dann ausgewaschen, das sehe ich noch genau vor mir.
Mit meinem alten Herrn bin ich oft mit dem Fahrrad am Kanal entlang von Herten-Süd nach Gelsenkirchen gezuckelt. Die ersten Besuche in der Glückauf-Kampfbahn – ich war aufgeregt wie Bolle. Das Stadion war proppenvoll. Irgendwo gab es immer ein Loch im Zaun, wo ich dann durchgeklettert bin. Wenn es ganz eng wurde, haben sich die Leute auf Bierkästen gestellt oder sind auf einen Baum geklettert.«
Die Leidenschaft wird nun immer größer, und Assauer junior hat nur noch ein Ziel: Fußballer werden. Was sogar Einfluss auf die Wahl der Schule hat.
»Bei uns im Katzenbusch wohnten die Malocher, da ist ordentlich gepöhlt worden. Ich wollte nicht aufs Gymnasium an der Gartenstraße. Denn da oben in Herten war Fußball ein Fremdwort, die trugen die Nase gegenüber uns Arbeiterkindern ziemlich weit oben. Die haben höchstens Handball oder Volleyball gespielt oder geturnt. Das war damals vornehmer. Meine Eltern redeten mir ein: › Geh zur Penne, Junge. ‹ Mein Bruder war auf dem Gymnasium, musste aber runter, weil mein Vater arbeitslos war. Damals musste man noch Schulgeld zahlen, dazu noch die Bücher kaufen. Das Geld hat einfach nicht gereicht. Lothar hat noch die Mittlere Reife gemacht und dann am Bau gearbeitet. Er hat quasi die Familie ernährt. Erst nach seiner Heirat konnte er eine Stuckateurlehre und die Meisterprüfung machen. Später wurde er Verkaufsleiter bei einer Baustofffirma, ein guter Job. Karin durfte nicht aufs Gymnasium. Vater sagte: › Du bist ein Mädchen, du heiratest eh mal. ‹ Lothar musste runter vom Gymnasium, Karin durfte nicht, und ich wollte nicht. Meine Schwester ging später zur Handelsschule.«
Rudi Assauer absolviert mit seiner Schwester die Volksschule. Mit 14 Jahren dann beginnt er eine Lehre als Stahlbauschlosser bei der Firma Hese in Herten. Und er geht zur Abendschule, weil die Eltern es so wollen. Aber nur bis zu jenem Mittwoch im Mai 1961, der seinem Leben mit 17 Jahren die entscheidende Wende geben sollte. Ein Schlüsselerlebnis. Es ist der Abend, als der Fußball siegt – endgültig.
»Im Fernsehen lief das Spiel Benfica Lissabon gegen den FC Barcelona, das Finale im Europapokal der Landesmeister. Ein sagenhaftes Spiel, die Portugiesen gewannen
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