Wie Blueten Am Fluss
hierher
hat mir alle mädchenhaften Prüderien geraubt, denen ich früher vielleicht einmal nachgehangen habe.
Wenn Sie mir also vertrauen wollen, bleibe ich bei Ihnen und tue, was getan werden muß, falls Hilfe
vonnöten sein sollte, bevor der Arzt kommt.«
»Ich vertraue Ihnen«, flüsterte Calley zur Antwort. Dann begann sie wieder, sich zu krümmen und sich
an die Laken zu klammern, während sie ihr unabwendbar scheinendes Schicksal betrauerte.
Schließlich hatte sie sich so in ihren Gram hineingesteigert, daß sie nicht mehr stilliegen konnte.
»Versuchen Sie, sich zu entspannen«, redete Shemaine beschwichtigend auf sie ein. Sie erinnerte sich
daran, wie ihre Freundin Annie einer ihrer Zellengefährtinnen auf der London Pride während der Geburt beigestanden hatte. Das Kind war wegen der Entbehrungen, die seine Mutter erlitten hatte, furchtbar mißgestaltet zur Welt gekommen. Der kleine Junge hatte den Tag nicht überlebt, aber Annie
hatte die Frau beruhigt und ihr mit sanfter Beharrlichkeit durch die Wehen geholfen. Diesmal waren
die Umstände anders, das war Shemaine durchaus bewußt, aber dennoch wuchs in ihr die
Entschlossenheit, Calley wenn möglich auf die gleiche Art zu helfen. Bis auf ihre erste Erfahrung mit
der Geburt
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eines Kindes wußte sie nicht genug von diesen Dingen, um ansonsten von großem Nutzen zu sein.
»Versuchen Sie sich ihre kleine Tochter vorzustellen und denken Sie daran, wie sehr Sie ihr vielleicht helfen, wenn Sie die Ruhe bewahren. Sie dürfen sich nicht überanstrengen oder sich zu sehr aufregen, sonst fühlt sie sich vielleicht unerwünscht. Geben Sie ihr das Gefühl, in der sicheren, warmen Zuflucht Ihres Leibes geborgen zu sein. Schließen Sie die Augen, und denken Sie daran, wie schön Ihre Tochter ist. Ich glaube, sie wird Ihnen ähnlich sein, mit Haaren wie Weizen und Augen von der Farbe des
Himmels. Sie wird einmal der ganze Stolz ihrer Brüder sein...«
Mit fest geschlossenen Augen nickte Calley nun, denn in ihrem Kopf begann sich das Bild des
Mädchens zu formen. Ihr Atem wurde wie von Zauberhand gelenkt langsamer, die Tränen versiegten,
und an ihre Stelle trat ein Lächeln. »Ja, sie wird ein wunderhübsches Gesicht haben.«
Shemaine beugte sich vor, um der Frau ins Ohr zu flüstern. »Können Sie sich selbst sehen, wie Sie
Ihre Tochter an sich drücken und sie sanft in den Armen wiegen, während Sie ihr ein Schlafliedchen
singen?«
Calley seufzte selig auf. »Ja, sie hat es gern, wenn ich singe.«
»Sie lächeln ja, Mrs. Täte«, murmelte Shemaine. Als die Frau überrascht die Augen öffnete, lachte sie
leise. »Und die Schmerzen haben aufgehört.«
»Ja, das stimmt!« Calley, die den Kopf auf dem Kissen umwandte, sah Shemaine durch
zurückgehaltene Tränen an. »Kann das wirklich sein? Kann ich das Baby behalten, wenn ich nur ganz
fest daran glaube?«
»Das weiß ich nicht, Mrs. Täte«, antwortete Shemaine ehrlich. »Aber mir scheint, daß es Ihnen beiden
besser bekommt, wenn Sie entspannt und voller Hoffnung sind und nicht ängstlich und voller Sorge.«
»Nennen Sie mich Calley«, bat die Frau sie mit ernster Miene. »Ich kann sehen, daß Sie eine echte
Dame sind, genauso wie Thornton ein richtiger Gentleman ist. Er braucht eine Frau wie Sie.«
»Ich bin nur seine Vertragsarbeiterin«, erwiderte Shemaine ab—
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wehrend. Das letzte, was sie wollte - vor allem nach den Qualen der vergangenen Nacht -, war, daß
diese Frau sich in den Kopf setzte, ihr Herr könne die Absicht haben, sie zu heiraten. Nicht
auszudenken, wenn ihre neue Freundin den Fehler beging, etwas Derartiges zu ihm zu sagen. Sie
selbst hatte sich in letzter Zeit schon viel zu oft bei Gage Thornton entschuldigt.
»Das wird sich ändern«, prophezeite Calley, die von Sekunde zu Sekunde zuversichtlicher wurde.
»Ramsey sagt das auch. Er meinte, Mr. Thornton sei ganz vernarrt in Sie.«
»Mr. Thornton ist in meine Küche vernarrt«, protestierte Shemaine entschlossen. »Sonst nichts. Ihr
Mann hat sich geirrt.«
Shemaines Beteuerungen, daß sich aus ihrer Verbindung mit Gage Thornton keine tieferen Bande
entwickeln würden, setzten Calley in Erstaunen. »Würden Sie ihn denn nicht heiraten, wenn er Sie
darum bäte?«
»Bevor ich hierher kam, war ich einem anderen Mann anverlobt ...« Shemaines Worte gerieten ins
Stocken, und sie mußte feststellen, daß sie ihren Satz nicht beenden konnte. Die Erinnerung an ihren
Verlobten schien seltsam weit entfernt von
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