Wie Blueten Am Fluss
der Wirklichkeit ihrer Gegenwart zu sein.
»England ist weit weg, Ma'am, und Mr. Thornton ist hier und wartet förmlich darauf, wieder zum
Ehemann zu werden. Finden Sie nicht auch, daß er ein besonders gelungenes Exemplar dieser Gattung
abgeben würde?«
»Gewiß würde er das, aber ich...« Wieder fehlten Shemaine die Worte.
»Der Mann, mit dem Sie in England verlobt waren, war der genauso anziehend wie Mr. Thornton?«
hakte Calley unerbittlich nach.
»Ich weiß nicht...« Shemaine stöhnte leise. Ihr war nicht wohl bei solchen Fragen. Nach den
Maßstäben aller heiratsfähigen jungen Damen in England galt Maurice du Mercer als der
bestausseendste Mann in ganz London. Dennoch hätte Gage Thornton in den Herzen mancher dieser
Mädchen gewiß dieselbe Verwirrung anstiften können, wie sie sie im Augenblick erlebte. Es schien
ihr irgendwie treulos, zu glauben, ihr früherer Verlobter sei weniger
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attraktiv. Überdies schien es eine rechte Torheit zu sein, sich über den Grad der Attraktivität des einen oder anderen Mannes den Kopf zu zerbrechen. Wenn sie Gage Thornton tatsächlich anziehender fand, dessen war sie gewiß, dann nur deshalb, weil er in der Nähe und Maurice so weit fort war.
»Lieben Sie Ihren Verlobten immer noch?«
»Früher einmal habe ich das gedacht«, gestand Shemaine ein wenig lahm. »Aber das alles scheint so
lange her zu sein, und inzwischen ist soviel passiert. Vielleicht will Maurice mich gar nicht mehr
haben, wenn man an meine Verhaftung und all das andere denkt.«
»Mr. Thornton will Sie jedenfalls, das steht fest.«
»Dieses Gespräch scheint mir völlig sinnlos zu sein«, erwiderte Shemaine in der Hoffnung, alle
beunruhigenden Mutmaßungen in dieser Richtung im Keim ersticken zu können. »Niemand kann mit
Gewißheit vorhersagen, was Mr. Thornton denkt. Ich bin einfach seine Dienerin, und solange er nicht
selbst davon spricht, werde ich jede Diskussion über das Thema Ehe als reine Spekulation betrachten.«
»Jawohl, es ist nicht recht, wenn wir sagen, was Mr. Thornton tun wird«, räumte Calley ein. »Es gibt
auch so schon genug Leute, die zu erraten versuchen, was er im Schilde führt.«
Shemaine atmete erleichtert auf; sie hatte sich offensichtlich verständlich gemacht. Dann umfaßte sie
die Finger der Frau und blickte lächelnd auf sie hinab. »Wie geht es Ihnen jetzt?«
»Ich bin ein bißchen müde«, gab Calley zu. »Aber es geht mir besser.«
»Ein wenig Ruhe würde Ihnen und dem Kleinen vielleicht guttun.«
»Ja, ich glaube, jetzt kann ich schlafen... und hoffen.«
»Dann werde ich Sie jetzt allein lassen, um Sie nicht weiter zu stören. Falls Sie mich brauchen, ich bin in der Küche.«
Mit einem wohligen Seufzer schloß Calley die Augen, und Shemaine schlüpfte lautlos aus dem Raum.
Ramsey erwartete sie vor dem Herd, und als sie den gramvollen Ausdruck seines Gesichtes sah,
beeilte sie sich, seine Ängste zu zerstreuen.
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»Ihrer Frau geht es jetzt schon viel besser, und sie wird wohl eine Weile schlafen können.« Der Druck
der letzten Stunden hatte deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Der Mann tat Shemaine
leid. »Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie jetzt auch ein wenig schlafen würden«, sagte sie freundlich.
»Ich rufe Sie, falls irgend etwas passiert.«
Gage Thornton stieg aus seinem Wagen und ging auf das Häuschen des Arztes zu. Im Nachbargarten
zupfte eine zierliche Frau Unkraut, das dort bereits zu wuchern begann. Als er näher kam, richtete sie sich auf und blinzelte in die Sonne, um ihn ansehen zu können. Während er an die Haustür klopfte, rief sie ihm zu: »Wenn Sie zum Doc wollen, der ist ein Stück flußaufwärts gefahren, um ein gebrochenes Bein zu
versorgen. Es wird eine ganze Weile dauern, bis er wieder da ist. Falls Sie schreiben können, können
Sie ihm einen Zettel da lassen, damit er weiß, wo er hin soll, wenn er wieder zurück ist. Doc Ferris hat mir aufgetragen, das jedem zu sagen, der zu ihm will. Er hat auf der Veranda eine Schreibfeder und Papier liegen lassen...«
Gage Thornton sah die schäbig gekleidete Frau an und überlegte, ob er ihr schon einmal begegnet war,
denn ihre Stimme klang seltsam vertraut in seinen Ohren. Als er über die Wiese auf sie zuging,
bemerkte er, daß die linke Seite ihres Gesichts geschwollen und voller dunkler Flecken war. Trotzdem
erinnerte er sich jetzt deutlich an die kleine Frau, die ihn auf der London Pride ermutigt hatte, Shemaine zu kaufen.
»Annie
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