Wie Blueten Am Fluss
entgegenbrachten, war kaum eine Überraschung für ihn. Sie
hätten blind sein müssen, um nicht - selbst hinter all dem Schmutz - die Schönheit des Mädchens zu
erkennen. Sie hatte den gleichen zarten Knochenbau wie seine verstorbene Frau, aber damit endete
auch schon die Ähnlichkeit zwischen den beiden. Verglichen mit Victoria war Shemaines Teint
beinahe kräftig zu nennen. Außerdem war sie um einiges kleiner und auch allgemein zierlicher, nur
daß sie mehr Busen hatte, als seiner Frau von der Natur geschenkt worden war.
»Shemaine O'Hearn«, murmelte er nachdenklich; es fiel ihm kaum auf, daß er ihren Namen laut
ausgesprochen hatte, bis sie fragend zu ihm aufblickte.
»Sir?«
Gage fiel keine unverfängliche Erklärung ein, daß er sie so unverhohlen anstarrte, daher kam er noch
einmal auf die Vermutung zu sprechen, die er zuvor geäußert hatte. »Irin, hm?«
In den smaragdfarbenen Augen blitzte Empörung auf. So! knirschte Shemaine im Geiste, Gage Thornton ist genauso wie der Rest der Engländer, die die Iren verachten! Sie hob das Kinn und richtete sich kerzengerade auf, bevor sie mit betontem Stolz erwiderte: »Jawohl, Sir! Mein Name ist O'Hearn! Shemaine Patrice O'Hearn! Tochter von Shemus Patrick und Camille O'Hearn! Ich bin halb
Irin, jawohl, Sir, und halb Engländerin, falls das für euch Kolonisten hier auch nur ein Jota zählt!«
Die dunklen Brauen fuhren überrascht in die Höhe. Wie unschuldig seine Bemerkung auch gewesen
sein mochte, Gage wurde nun klar, daß er eben den leidenschaftlichen Geist entzündet hatte, vor dem
das Mädchen ihn gewarnt hatte. »Weder das eine noch das andere ist ein Verbrechen, Shemaine«,
erwiderte er, um ihren Argwohn zu zerstreuen. »Aber verrate mir doch bitte eins. Annie sagte, du seist eine Dame, und obwohl ich durchaus Beweise für diese Tatsache sehe, frage ich mich, wie du da an Bord eines Sträflingsschiffs gelangen konntest.«
Shemaines Zorn schmolz rasch dahin, als sie seine tolerante Haltung bemerkte, aber mit ihrer Antwort
ließ sie sich Zeit. Es kam ihr vor, als hätte sie tausendmal versucht, ihre Unschuld zu beweisen -erst dem Häscher, dann dem Richter mit dem finsteren Gesicht und schließlich dem Gefängniswärter. Aber keiner dieser Männer hatte ihren tränenreichen Versicherungen Glauben geschenkt. Vielleicht waren
sie durch ein hohes Bestechungsgeld dazu gekauft worden, wie Shemaine oft geargwöhnt hatte. Was
auch immer ihre Gründe gewesen sein mochten, sie hatte ernste Zweifel, daß dieser Fremde ihre
Geschichte nun für wahr hielt.
»Ich habe niemanden getötet, Mr. Thornton, wenn es das ist, was Ihnen Sorge bereitet.«
Gage antwortete mit einem leisen Glucksen. »Das habe ich auch nie vermutet, Shemaine.«
Sein Blick aber ruhte weiterhin auf ihr, und es stand außer Frage, daß er eine Antwort erwartete und
sich nicht mit einer dürftigen Ausrede zufriedengeben würde. Mit einem Stoßseufzer wappnete
Shemaine sich im Geiste gegen das Martyrium, alles noch einmal zu wiederholen. Nur widerstrebend
begann sie, ihre traurige Geschichte zu erzählen. »Es ist nun annähernd acht Monate her, daß ich das
Vergnügen - vielleicht sollte ich besser sagen, das Mißgeschick - hatte, mich mit dem Marquis du
Mercer in London zu verloben. Seine Großmutter, Edith du Mercer, hat meinen Mangel an
aristokratischen Ahnen weit weniger unbefangen aufgenommen als Maurice selbst. Ich vermute, daß
sie es war oder zumindest jemand in ihren Diensten, auf dessen Verschwiegenheit sie bauen konnte...
Jedenfalls wurde ein Häscher eigens dafür bezahlt, mich während der Abwesenheit meiner Eltern aus
unserem Haus zu entführen. Nur einige Diener und eine Tante haben damals auf mich achtgegeben,
und das war Edith du Mercer genau bekannt. Ich vermute, das Ganze war ein verzweifelter Versuch,
zu verhindern, daß ihr Enkelsohn mich zur Frau nahm. Maurice kann sehr beharrlich sein, wenn er
sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, und seine Großmutter wäre eventuell nicht in der Lage
gewesen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Nach meiner Verhaftung wurde ich des Diebstahls angeklagt und zu einer
Gefängnisstrafe verurteilt. Nach all meinen gescheiterten Versuchen, jemanden zu bestechen, meinen
Eltern oder meiner Tante die Nachricht von meiner Verhaftung zu überbringen, schien es wenig
wahrscheinlich, daß meine Familie auf anderem Weg von meinem Aufenthaltsort erführe. Selbst wenn
ich die nötigen Münzen zur Hand gehabt
Weitere Kostenlose Bücher