Wie Blueten Am Fluss
Wangen rannen. Wenn man bedachte, wie energisch sie
Morrisa die Stirn geboten und wie trotzig sie sich Gertrudes Versuchen widersetzt hatte, sie zu
demütigen und zu vernichten, konnte
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sie kaum glauben, daß sie nun nur deshalb die Beherrschung verlor, weil ihr jemand mit ein wenig
Freundlichkeit begegnete. »Es tut mir leid, Mr. Thorn...« Sie stockte, weil sie fürchtete, daß es
endgültig um sie geschehen sein werde, wenn sie sich nun auch noch verbesserte und die vertrautere
Anrede benutzte. Aber sie hatte ihre liebe Not, ihre Gefühle zu erklären. »Ich hatte nicht... damit
gerechnet, so gut behandelt zu werden. Es sind jetzt vier Monate oder mehr vergangen, seit ich das
letzte Mal ein freundliches Wort gehört habe. Genausolange ist es her, daß ein Gentleman mir die Tür
aufgehalten hat oder gar stehengeblieben wäre, bis ich Platz genommen habe. Es ist mir furchtbar
peinlich, daß ich angefangen habe, zu weinen, Sir... aber ich kann anscheinend nicht dagegen an.«
Gage griff in seine Hosentasche, zog ein sauberes Taschentuch heraus und reichte es ihr. Dann stand
er auf und drehte sich um, während sie sich die Augen betupfte. Es dauerte nicht lange, da hatte er aus dem Schrank zwei kleine Becher geholt, den einen bis zum Rand mit Milch vollgegossen und eine kleinere Menge in den anderen gegeben. Als er wieder am Tisch stand, reichte er ihr den vollen
Becher und riet ihr: »Trink das, Shemaine. Du brauchst die Milch dringender als den Tee. Die Milch
wird dich beruhigen.« Dann schnitt er ohne Umschweife eine weitere Waffel auf, bestrich beide Seiten
mit Marmelade und legte sie auf einen zweiten Teller, den er vor sie hinstellte. »Laß dir deine Waffeln schmecken, Mädchen. Sie duften wunderbar.«
Shemaine lachte unter Tränen und bemerkte, wie ein flüchtiges Lächeln über Gages Lippen huschte,
während er ihren Blick erwiderte. Aus irgendeinem Grund wurde ihr bei dem Lächeln des sonst so
ernsten Mannes leichter ums Herz. Gehorsam nippte sie an dem Becher - die Milch war kalt und
köstlich - und nahm dann einen kleinen Bissen von der Waffel. Andrew trank schlürfend aus dem
Becher, den festzuhalten sein Vater ihm half. Danach schenkte Gage sich Tee ein und machte sich
ebenfalls über die Waffeln her. Einige Minuten lang aßen sie schweigend und genossen die köstliche
Speise. Dann erzählte Gage, um die Anspannung seiner Dienerin etwas zu lockern, die Geschichte des
Bären, der ihn vor einigen Jahren gehörig belästigt hatte.
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»Der alte Einohr war ein unglaublich bösartiges Vieh mit einem gewaltigen Haß auf die Menschen,
der seinen Grund zweifellos darin hatte, daß ihn einmal ein Trapper um eines seiner Ohren gebracht
hatte. Der Bär wagte sich mehrmals auf mein Land, ohne viel Schaden anzurichten. Aber an einem
frostkalten Morgen überraschte ich, als ich gerade draußen vom Abort kam, den alten Einohr dabei,
wie er versuchte, an ein junges Kalb heranzukommen, das ich im Frühjahr gekauft hatte. Ich schätze,
er hatte es sich zum Frühstück auserkoren. Als ich ihn in seinem Tun störte, wurde er natürlich
wütend. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, daß Einohr auf Rache aus war - und mich selbst als
Frühstück anpeilte. Ich hatte meine Muskete in der Hütte gelassen, und er stand nun vor mir und
überlegte, in welche meiner Weichteile er als erstes seine Pranken schlagen konnte. Ich war mehr oder
weniger schutzlos und hatte nichts am Leibe als meine Hosen. Victoria hatte den Lärm gehört und kam
mit meinem Vorderlader aus der Hintertür. Sie war damals hochschwanger mit Andrew, aber sie
zögerte keinen Augenblick. Der Bär fuhr gereizt herum, um sie anzugreifen, aber sie legte ungerührt
an und feuerte ihm ein Loch genau zwischen die Augen.« Ein Lächeln so flink wie das Blinzeln eines
Auges huschte über sein Gesicht. »Auf diese Weise sind wir zu einem Bärenfell für das Schlafzimmer
gekommen. Ich habe das Fell gegerbt und auf Victorias Seite des Bettes gelegt. So bekam sie im
nächsten Winter, wenn sie des Nachts aufstehen mußte, um Andrew zu stillen, keine kalten Füße.«
Obwohl Shemaines Augen immer noch gerötet waren, kamen keine neuen Tränen mehr, und in die
grünen, unter langen, feuchten Wimpern verborgenen Augen trat ein warmer Glanz. Sie stützte einen
Ellbogen auf den Tisch, legte das Kinn in die Hand und lächelte. »Ich glaube, Sie sollten mir bald
beibringen, wie man mit einer Muskete schießt, Mr. Thornton, um
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