Wie Blueten Am Fluss
Gefangenen
umzubringen. Das dürfte den Profit des Alten wohl mindestens um ein paar hundert Pfund
verringern.«
»Wenn Mr. Turnbull schon vor dieser Reise gedacht hat, er würde
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bestohlen«, murmelte Roger Blake grimmig, »könnte ich darauf wetten, daß er es jetzt erst recht
denkt.«
»Und zweifellos wird er seine hochwohlgeborene Tochter auch auf die nächste Fahrt mitschicken,
damit sie ihm noch einen Bericht geben kann.« Diese düstere Aussicht ließ einen Schatten über
Harpers Gesicht gleiten.
»Hatte Mr. Turnbull recht, Sir? Haben wir wirklich einen Dieb unter uns?«
James Harper stieß einen gequälten Seufzer aus. »Was auch immer die Wahrheit sein mag, Mr. Blake,
ich ziehe es vor, meinen Verdacht für mich zu behalten.« Dann fügte er mit einem Achselzucken
hinzu: »Trotzdem, wenn ich rausfände, wer der Schurke ist, würde ich ihn wohl kaum Mrs. Fitch auf
einem silbernen Tablett servieren. Sie hat ja keinen Zweifel daran gelassen, daß sie uns alle im
Verdacht hat, ihren Vater zu betrügen.«
»Und ob, Sir, und ob«, pflichtete Roger Blake ihm von Herzen bei. Mrs. Fitch hatte eindeutig die
Gabe, einem ehrlichen Seemann das Gefühl zu geben, weder Respekt noch Vertrauen zu verdienen.
Nicht einmal der Käpt’n blieb von ihrer Kritik verschont. Allerdings hatte sie im Laufe der Reise die
seltsame Neigung entwickelt, dem Geschwätz von Jacob Potts durchaus wohlwollend zu lauschen,
obwohl dieser abscheuliche Kerl bekanntermaßen allenthalben unbeliebt war - sowohl bei den
wenigen Offizieren als auch bei den meisten seiner Mannschaftskameraden.
Roger Blake warf einen kurzen Blick auf die Brücke und schloß mit sich selbst eine Wette ab, daß das
ältliche Ehepaar wieder einmal in eine erbitterte Auseinandersetzung verstrickt war. Die Tatsache, daß er seine Wette gewann, nötigte ihm nur ein klägliches Lächeln ab. Die beleibten Eheleute lagen sich auch heute in den Haaren, und er wußte aus Erfahrung, daß Mrs. Fitch keinen Millimeter weichen
würde, bevor sie nicht ihren Kopf durchgesetzt hatte. Voller Dankbarkeit, daß er nicht mit einer Frau
wie diesem Walroß geschlagen war, wandte Roger sich wieder seinen Pflichten zu.
Shemaine empfand zunächst ein vages Gefühl der Erleichterung, als Potts fortgeschafft wurde. Aber
nach einer Weile sickerte das aufgeregte Gemurmel der anderen Frauen in ihr Bewußtsein durch.
Die verängstigten Kommentare und Spekulationen darüber, welche neuen Grausamkeiten sie alle in
der Gewalt ihrer zukünftigen Herren erwarteten, verfehlten ihre Wirkung nicht und würzten
Shemaines Angst mit einer scharfen Prise härtester Realität. Trotz aller Widrigkeiten, die sie seit ihrer Abfahrt aus England hatte ertragen müssen, hatte sie immer versucht, sich Mut zu machen, und sich an die winzigkleine Hoffnung geklammert, ihre Eltern oder vielleicht sogar ihr Verlobter könnten durch
irgendein Wunder herausgefunden haben, wohin man sie gebracht hatte. Dann würden sie gewiß
rechtzeitig zur Stelle sein, um sie vor dem Schicksal zu bewahren, als unfreie Dienstbotin verkauft zu werden. Aber bisher hatte sie kein einziges der geliebten Gesichter entdecken können, und es blieben ihr nur noch wenige Augenblicke, bevor dieses demütigende Geschehen seinen Lauf nehmen würde.
Shemaine ließ ihre schlanken Finger unter das Eisenband gleiten, das ihre Handgelenke umschlossen
hielt, um das ständige Scheuern ein wenig zu mildern. Daß sie hier war, konnte man nur als grausame
Ironie ansehen, aber nachdem sie die bittere Arznei der englischen Rechtsprechung gekostet hatte,
glaubte sie nicht länger, daß sie die einzige Gefangene an Bord der London Pride war, die zu Unrecht verurteilt worden war. Andere hier hatten gleichermaßen harte Strafen für kein geringeres Vergehen erhalten, als einen Laib Brot zu stehlen oder eine politische Meinung zu äußern, was einigen der
jungen irischen Hitzköpfe nur allzu ähnlich sah. Trotz der unbedeutenden Vergehen und der
abgrundtiefen Absurdität der dafür verhängten Strafmaße waren sie als widerlicher Abschaum aus
England verbannt worden. Selbstherrliche Richter mit schweren Perücken hatten den
Gefängniswärtern Anweisung gegeben, jedem Verbrecher königliche Begnadigung zu versprechen,
der sich in den Kolonien zu mehrjährigem Arbeitseinsatz verdingte. Die Alternativen dazu hatten
einen solchen Vorschlag vergleichsweise großmütig erscheinen lassen. Es hieß entweder
Vertragsarbeit außerhalb des
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