Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
andere Seite der Brücke war, ehrlich gesagt, eine ganz andere Welt. Geographisch gesehen, trennten Pine Island und Port George nur etwa hundert Meter, aber in anderer Hinsicht war die Distanz riesig. In Port George kauften nette, anständige Jungs aus Pine Island mit gefälschten Schülerausweisen Bier und Zigaretten. An den Schulen dort gab es ständig Ärger. Jude fuhr auf den Highway und steuerte Richtung Festland.
»Hier können Sie einbiegen«, bat Lexi etwa eine Meile von der Brücke entfernt. »Das heißt, lassen Sie mich lieber gleich raus. Den Rest kann ich zu Fuß gehen.«
»Da bin ich anderer Meinung.«
Jude folgte den Schildern zum Wohnwagenpark. Dort angekommen, wies Lexi sie über eine gewundene Straße zu einer winzigen zugewucherten Parzelle mit einem Doppelwohnwagen in verblichenem Gelb, der auf Betonblöcken aufgebockt war. Die Tür war hässlich blau und hatte in der Mitte einen Riss, und die Vorhänge waren alt und am Saum ausgefranst. Der Rost kroch wie Raupen an den unteren Rändern empor. Tiefe schlammige Reifenspuren im Gras zeigten an, wo normalerweise der Wagen stand.
Jude parkte am Rand der Parzelle und schaltete den Motor aus. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. »Ist deine Mom zu Hause? Ich möchte dich nicht einfach so absetzen. Im Gegenteil, ich würde sie gerne kennenlernen.«
Lexi sah Jude an. »Meine Mom ist vor drei Jahren gestorben. Ich wohne jetzt bei meiner Tante Eva.«
»Ach, Schatz«, sagte Jude. Sie wusste, wie es war, ein Elternteil zu verlieren. Ihr Vater war gestorben, als sie erst sieben gewesen war. Damals war die Welt mit einem Schlag dunkel und furchterregend geworden, und sie hatte jahrelang nicht gewusst, wo ihr Platz war. »Das tut mir aber leid. Es muss sehr schwer für dich sein.«
Lexi zuckte mit den Schultern.
»Wie lange wohnst du schon bei deiner Tante?«
»Vier Tage.«
»Vier Tage? Aber … wo warst du denn …«
»In Pflegefamilien.« Lexi seufzte. »Meine Mom war drogensüchtig. Manchmal mussten wir im Auto wohnen. Jetzt lassen Sie mich wohl nicht mehr mit Mia zusammen sein. Ich verstehe das, ehrlich. Ich wünschte, meine Mom hätte sich auch dafür interessiert, mit wem ich befreundet bin.«
Jude runzelte die Stirn. Das alles war wirklich ganz anders, als sie erwartet hatte. Natürlich machte es ihr Angst, aber sie wollte kein Mensch sein, der andere nach ihrer Herkunft beurteilte. Und Jude hatte noch nie ein junges Mädchen gesehen, das so geschlagen wirkte wie Lexi jetzt. Alles an ihr zeugte von Kummer und Elend. Ganz sicher hatte sie Schlimmes erlebt.
»Ich bin nicht wie meine Mom«, sagte Lexi ernst, und pure Bedürftigkeit lag in ihrem Blick.
Jude glaubte ihr, dennoch konnte Gefahr von ihr ausgehen. Mia war leicht zu beeinflussen und konnte schnell in die Irre geführt werden. Das durfte Jude nicht missachten, ganz gleich, wie leid ihr dieses Mädchen hier tat. »Ich bin auch nicht wie meine Mutter. Aber …«
»Was?«
»Mia ist schüchtern. Das hast du sicher schon bemerkt. Sie schließt nicht schnell Freundschaft und macht sich zu viele Gedanken über ihre Wirkung auf andere. So war sie schon immer. Letztes Jahr wurde ihr außerdem das Herz gebrochen. Nicht von einem Jungen, nein, schlimmer noch. Ein Mädchen – Haley – freundete sich mit ihr an. Ein paar Monate waren die beiden unzertrennlich. Ich hab Mia noch nie so glücklich gesehen. Aber in Wahrheit hatte Haley es nur auf Zach abgesehen, und er ging ihr in die Falle. Er wusste nicht, wie aufgebracht Mia darauf reagieren würde. Jedenfalls ließ Haley sie wegen Zach fallen, und als Zach das Interesse an ihr verlor, wollte Haley nicht mehr zu uns kommen. Mia war so verletzt, dass sie fast einen Monat lang nichts mehr sagte. Ich hab mir wirklich große Sorgen um sie gemacht.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Ich glaube, weil … wenn du ihre Freundin wirst, muss sie wissen, dass sie sich auf dich verlassen kann. Und ich würde das jetzt auch gerne wissen.«
»Ich werde ihr niemals weh tun«, versprach Lexi.
Jude dachte an die Gefahren, die diese Freundschaft für ihre Tochter bergen mochte, und an die Freuden und wog sie gegeneinander ab, als müsste sie die Entscheidung treffen. Dabei wusste sie, dass ein vierzehnjähriges Mädchen sich seine Freunde selbst aussuchte. Aber Jude konnte es den beiden leicht oder schwer machen. Was war das Beste für Mia?
Als sie Lexi ansah, wusste sie die Antwort. Jude war Mutter, vor allem anderen. Und ihre Tochter brauchte unbedingt
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