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Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)

Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)

Titel: Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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wirken, aber es gelang ihr nicht. Sie fühlte sich so unwohl in ihrer Haut, war so nervös, als hätte sie zehn Tassen Kaffee auf leeren Magen getrunken. Sie knabberte an ihrem Daumennagel und fing wieder an, unruhig hin- und herzuwandern. Irgendwo im Hintergrund lauerte die Panik. Sie spürte sie wie einen Schatten hinter der Tür, der darauf wartete zuzuschlagen. Aber den Grund dafür konnte sie nicht benennen. Sie wusste nur, dass sie Angst hatte, und zwar seit sie Lexis Brief gelesen hatte.
    »Ich bin stolz auf Sie, Jude«, sagte Harriet mit ihrer charakteristisch ruhigen Stimme. »Es braucht eine Menge Mut, Lexi von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.«
    »Eigentlich war es so nicht. Ehrlich gesagt, habe ich sogar versucht, sie nicht mal anzusehen.«
    »Aber letzten Endes haben Sie sie doch angesehen.«
    Jude nickte, kaute aber weiter an ihrem Daumennagel und tappte mit dem Fuß.
    »Und was haben Sie gesehen?«
    »Das Mädchen, das meine Tochter getötet hat … und die Mutter meiner Enkelin. Und die erste große Liebe meines Sohnes. Und … ein Mädchen, um das ich mich früher gekümmert habe.« Jude kratzte sich nervös die Wange. Plötzlich juckte ihre Haut. »Was ist los mit mir, Dr. Bloom? Ich fühle mich, als würde ich verrückt werden.«
    »Sie werden nicht verrückt. Ich glaube, Sie sind jetzt so weit, zu einem Treffen der Compassionate Friends zu gehen. Zufällig findet heute eins statt. Um zwei Uhr.«
    »Kommt jetzt das schon wieder?« Jude seufzte, setzte sich, tappte mit dem Fuß und ballte ihre Hände immer wieder zu Fäusten. »Ich werde mich nicht mit anderen Eltern, die ein Kind verloren haben, in eine Runde setzen. Soll ich da etwa über Mia sprechen ? Kommt sie dadurch zurück?«
    »In gewisser Weise.«
    »Das kann auch nur jemand sagen, der kein Kind verloren hat. Nein danke.«
    »Sie können nur zu einem Abschl …«
    »Gott möge mir verzeihen, aber wenn Sie jetzt das Wort ›Abschluss‹ in den Mund nehmen, gehe ich raus. Es gibt keinen Abschluss. Das ist nur Geschwafel. Ich kann immer noch keine Musik hören – ganz gleich, welche. Ich muss unter der Dusche immer noch weinen. Manchmal schreie ich im Auto. Ich rede mit meiner Tochter, aber sie hört mich nicht. Das alles hört einfach nicht auf.«
    »Sie haben einmal gesagt, Sie fühlten sich grau.«
    »Ich sagte, ich lebe im Grau. In einem dicken, aschefarbenen Nebel.«
    »Und Sie dachten, in jener Nacht, in der Mia starb, sei der Regen aschefarben gewesen?«
    »Ja, und?«
    Harriet sah sie über ihre Halbbrille hinweg an. Jude hatte sie schon verstanden. »Wenn Sie also immer noch im Grau leben, könnten Sie sich vielleicht mal umsehen. Vielleicht können Sie jetzt etwas sehen. Formen. Menschen.«
    Jude hörte auf, an ihrem Nagel zu kauen. »Was meinen Sie damit?«
    »Ich weiß, dass es immer weh tun wird, Jude, da gebe ich mich keinerlei Illusionen hin. Aber vielleicht können Sie endlich akzeptieren, dass es auch noch etwas anderes als diesen Schmerz gibt. Deshalb verhalten Sie sich gerade wie ein überzüchteter Pudel: Sie haben Angst vor Gefühlen , aber Gefühle kann man nicht unterdrücken. Sie haben sich so weit geöffnet, Lexi Baill in Ihr Haus zu lassen. Das ist ein Riesenschritt, Jude.«
    »Ich hab Grace etwas vorgelesen und mit ihr gespielt«, sagte Jude leise.
    »Wie haben Sie sich dabei gefühlt?«
    Jude blickte auf. »Wie eine Großmutter.« In ihren Augen schwammen Tränen, aber das merkte sie erst jetzt. »Ich war so hart gegenüber Zach. Aber ich konnte ihn einfach nicht ansehen, ohne … mich zu erinnern …«
    »Aber es ist gut, sich zu erinnern, Jude.«
    »Nicht für mich. Ich … zerbreche daran.«
    »Vielleicht ist das nötig, bevor Sie sich wieder neu zusammenfügen.«
    »Ich habe Angst, dass ich das nicht mehr kann.«
    »Aber Sie können es. Sie sind schon dabei.«
    »Was soll ich denn jetzt tun?«
    »Folgen Sie Ihrem Herzen.«
    Allein die Vorstellung ließ Jude erschauern. Sie hatte sich so angestrengt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Allein bei dem Gedanken, sich zu öffnen, spürte sie schon einen Anflug von Panik. Sie wusste nicht, ob sie das konnte. Ob sie das überhaupt wollte.
    Den Rest der Sitzung versuchte Jude, Dr. Bloom zuzuhören, aber Panik machte sich in ihr breit und verdrängte alles andere, bis sie nur noch ihren eigenen Atem wahrnahm. Was, wenn sie sich wieder öffnete und der Schmerz sie überwältigte? Was, wenn all ihre Fortschritte dadurch zunichtegemacht wurden? Es war noch nicht so

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