Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
lange her, dass Jude praktisch lebensuntüchtig gewesen war, ein weinendes Häufchen Elend, das nur mit Tabletten den Tag überstand.
Am Ende der Sitzung sagte sie etwas zu Dr. Bloom – sie wusste nicht mal, was – und ging hinaus.
Draußen war es bewölkt, doch gleichzeitig hell. Sandfarbene Wolken hingen tief über der Stadt, aber hier und da lugte die Sonne hindurch, während es an anderen Stellen kaum merklich nieselte. Die Touristen auf dem Markt drängten sich unter bunten Schirmen zusammen. Unter diesem weinenden Regen stand Jude vor Dr. Blooms Gebäude und überlegte, wohin sie gehen sollte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, jeder Schritt könnte verhängnisvoll sein.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Ma’am?«, fragte ein Junge neben ihr. Er hatte leicht verfilzte Haare und ein Skateboard unter dem Arm. Jude erinnerte sich auf einmal an die Zeit, als Zach und Mia auf die Mittelschule gegangen waren. Das war eine Ewigkeit her – oder vielleicht auch nur eine Sekunde.
Sie hätte alles dafür gegeben, jetzt einfach zu ihrem Wagen zu rennen, zur Fähre zu fahren und nach Hause zu kommen. Aber das ging nicht. Es war Mittwoch.
»Mir geht’s gut«, sagte sie zu dem Jungen. »Danke.« Dann entfernte sie sich langsam von ihm. Der Regen fiel ihr auf den Kopf, und ab und zu landete ein Tropfen in einem ihrer Augen, doch das bemerkte sie kaum.
Kurz darauf stand sie vor der Galerie ihrer Mutter. In den Schaufenstern zu beiden Seiten der Tür hingen riesige Leinwände – eine zeigte eine traditionelle Landschaft, Tulpen im Skagit Valley, gold und rot unter einem melancholisch düsteren Himmel; die andere war ein Stillleben, eine Vase mit rosafarbenen Dahlien. Nur wenn man genau hinsah, konnte man die feinen Risse in dem antik wirkenden Porzellan erkennen.
Sie öffnete die riesige Glastür neben der Galerie und betrat die elegante Eingangshalle. Sie grüßte den Portier, ging zum Aufzug und fuhr ins oberste Stockwerk.
Der Aufzug öffnete sich zum Penthouse; viertausend Quadratmeter elfenbeinfarbener Marmorboden, auf dem hier und da exquisite antike, unbequeme Möbel standen. Panoramafenster erlaubten einen Blick auf die Skyline von Seattle, auf die Elliott Bay und an guten Tagen auf den Mount Rainier.
»Judith«, sagte ihre Mutter und kam auf sie zu. »Du bist früh dran. Möchtest du ein Glas Wein?«
»Unbedingt.« Jude folgte ihrer Mutter ins Wohnzimmer. Die wenigen Wände hier waren cremeweiß und mit riesigen Kunstwerken geschmückt, die Jude nicht gefielen, da sie alle dunkel und irgendwie entmutigend waren, traurig. Ihr Anblick hatte Jude schon immer deprimiert. Doch abgesehen von den Bildern, war alles andere hier weiß. Jude setzte sich in einen Sessel am Kamin.
Ihre Mutter brachte ihr ein Glas Weißwein. »Danke, Mutter.«
Caroline nahm Jude gegenüber auf dem hellen Sofa Platz. Sie sah so elegant aus, als wollte sie einen Empfang geben: Ihre weißen Haare waren zu einer kunstvollen Hochfrisur gesteckt, und ihr Gesicht war so geschickt geschminkt, dass ihre grünen Augen betont wurden und die Fältchen an ihrem Mund fast unsichtbar schienen.
»Du wirkst aufgewühlt«, stellte sie fest und nippte an ihrem Wein.
Das war eine merkwürdig persönliche Bemerkung ihrer Mutter. Normalerweise hätte Jude nur gelächelt und mit einer höflichen Ausflucht geantwortet, doch von Lexis plötzlicher Rückkehr, dem verdammten Brief und dem offensichtlichen Kummer ihres Sohnes war sie ausgelaugt und hatte keine Kraft mehr. Außerdem hatte sie Angst, obwohl sie nicht mal wusste, wovor. Was sollte sie tun? Sich nicht bewegen? Loslassen? Festhalten? Nichts fühlte sich mehr sicher an. Und sie wollte mit jemandem reden, wollte, dass jemand ihr half, einen Weg aus dieser Qual zu finden. Allerdings war ihre Mutter kaum die Richtige dafür.
Am liebsten hätte sie lächelnd das Thema gewechselt und so getan, als wäre nichts, doch jetzt schien ihr ganzes Leben auseinanderzufallen, und sie hatte keine Kraft mehr, sich zu verstellen. »Warum reden wir nie wirklich miteinander?«, fragte sie langsam. »Im Grunde kenne ich dich gar nicht. Und du kennst mich ganz sicher nicht. Warum eigentlich?«
Ihre Mutter stellte das Weinglas ab. Vor dem grauen Hintergrund des Panoramafensters wirkte sie fast unwirklich. Zum ersten Mal bemerkte Jude, wie alt und müde ihre Mutter aussah. Ihre Schultern waren so zart wie Vogelknochen, und ihr Rücken wurde schon krumm. »Das solltest du doch besser verstehen als jeder andere, Jude«,
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