Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
erwiderte ihre Mutter mit scharfer, eisiger Stimme, doch ihr Blick war so sanft, wie Jude ihn noch nie gesehen hatte. Es lag Traurigkeit darin. War das schon immer so gewesen?
»Warum sollte ich das verstehen?«
Ihre Mutter schaute aus dem Fenster. »Ich habe deinen Vater geliebt«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Als er starb, wusste ich, dass ich mich um dich kümmern musste, und ich wollte das auch, ich wollte dich lieben … aber in mir war nichts mehr. Ich konnte nicht mal mehr malen. Ich dachte, das würde nach einem Tag oder einer Woche vergehen.« Sie sah Jude wieder an. »Aber es hielt immer weiter an, und als es irgendwann so weit verschwand, dass ich wieder atmen konnte, warst du weg. Ich wusste nicht mal, wie ich dich zurückholen sollte.«
Geschockt starrte Jude ihre Mutter an. Wieso war ihr das niemals aufgegangen? Sie hatte gewusst, dass ihre Mutter am Tag der Beerdigung ihres Vaters mit dem Malen aufgehört hatte, dass sie aus dem Haus gegangen und nie wirklich zurückgekehrt war.
»Als ich gesehen habe, wie du als Mutter warst, war ich sehr stolz auf dich. Aber ich habe dir das nie gesagt. Vielleicht hättest du mir auch nicht zugehört, vielleicht wollte ich das aber auch nur glauben. Wie auch immer: Ich habe dir das nie gesagt. Dann sah ich, dass du denselben Fehler machtest wie ich: Du hörtest auf, Zach zu lieben … und dich selbst. Mir brach es das Herz. Ich hätte dir gesagt, was du falsch machst, aber du warst dir immer so sicher, dass ich die Schwache bin und du die Starke. Also solltest du wirklich am besten verstehen, welche Fehler ich gemacht habe, Jude. Du solltest wissen, wieso ich dich so behandelt habe.«
Jude wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihr gesamtes Leben, ihre ganze Identität wären auf den Kopf gestellt.
Ihre Mutter stand auf. Eine Sekunde lang dachte Jude, sie würde zu ihr kommen, die Distanz zwischen ihnen überwinden und sich vielleicht gar zu ihr setzen. Doch sie sagte nur: »Du bist jung. Du kannst deinen Fehler wiedergutmachen.«
Jude spürte, wie sie anfing zu zittern. Jetzt kam es: das, wovor sie Angst hatte. »Wie denn?«
»Die meisten glauben, Lieben sei ein Akt des Glaubens«, sagte ihre Mutter. »Aber manchmal ist es auch ein Akt des Willens. Ich hatte nicht genug Kraft, dich zu lieben, Jude – oder vielleicht auch, dir meine Liebe zu zeigen. Ich weiß nicht, was genau stimmt, und welchen Unterschied ergibt das am Ende auch? Du bist stärker, als ich je war.«
In gewisser Weise war dies genau das, was Dr. Bloom ihr schon seit Jahren predigte. Jude sah Bedauern im Blick ihrer Mutter und meinte einen Moment lang, in ihre eigene Zukunft zu blicken. Sie wollte nicht eines Tages alt und allein sein. »Nicht nur ich kann einen Fehler wiedergutmachen, Mutter.«
»Ich bin nicht mehr jung genug«, erwiderte ihre Mutter. »Ich hab meine Chance verpasst. Das weiß ich.«
»Das war also der Grund für unsere Verabredungen.«
»Natürlich.«
»Und deshalb wolltest du auch, dass ich die Galerie übernehme. Damit wir etwas gemeinsam haben.«
»Hast du dich je gefragt, woher der Name der Galerie stammt? JACE ist ein Akronym, das dein Vater fand: Judith Anne, Caroline, Edward. Er dachte, in diesem Namen würden wir für immer vereint sein.« Caroline seufzte. »Noch etwas, was ich bereue.«
Jude stand auf. Das Zittern ihrer Hände hatte nachgelassen. Plötzlich fühlte sie sich stärker als seit Monaten, vielleicht sogar seit Jahren. Sie wusste nicht, wie sie all ihre Fehler wiedergutmachen sollte, aber sie wollte zumindest damit anfangen. Schritt für Schritt. »Samstag gehe ich mit Gracie ins Aquarium. Möchtest du mitkommen?«
Caroline sah sie mit unsicherem Lächeln an. »Wirklich? Wir könnten uns am Fährhafen treffen. So gegen elf? Dann könnten wir danach bei Ivar zu Mittag essen. Du und dein Vater habt früher gerne den Möwen Pommes frites zugeworfen.«
Blitzartig erinnerte sich Jude, wie sie mit ihren Eltern am Geländer gestanden hatte und den über ihnen kreisenden Möwen Fritten zugeworfen hatte. Gut so, Schatz! Das Kind hat einen guten Wurf, stimmt’s, Caro?
»Er hat uns geliebt«, sagte Jude.
Ihre Mutter nickte. »Es tut gut, endlich über ihn zu sprechen.«
Mit einem Mal wusste Jude, was sie zu tun hatte. Vielleicht hatte sie das schon seit Jahren gewusst, aber jetzt, in diesem Augenblick, da ein Neuanfang verheißungsvoll aufschimmerte, war sie bereit, es zu wagen. »Ich kann nicht zum Essen
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