Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
Stimme geschlichen hatte, und spürte, wie das Gewicht seines Vorwurfs sie niederdrückte. »Wir alle sind verloren, Miles«, erwiderte sie. »Nur begreifst du das einfach nicht.«
Noch bevor er etwas entgegnen konnte, ging sie wieder nach unten und verkroch sich im Bett.
Jetzt wusste Lexi, warum sie unbedingt auf »nicht schuldig« hatte plädieren sollen. Das Gefängnis war ein Ort, wo Frauen sich um eine selbstgedrehte Zigarette prügelten. Man musste jede Sekunde wachsam sein. Ein falscher Blick auf die falsche Frau konnte buchstäblich tödlich sein.
Sie hatte ständig Angst, und wenn sie keine Angst hatte, war sie wütend. Ihre erste Zellengenossin Cassandra hatte sich als Drogensüchtige entpuppt, die alles für Crystal Meth tat und jede Nacht im Schlaf stöhnte. Die ersten vier Wochen ihres Gefängnisaufenthalts hatte Lexi damit verbracht, den gemeinen großen Frauen aus dem Weg zu gehen, die mit Drogen handelten. Sie sprach mit niemandem.
Aber heute hatte sie etwas, worauf sie sich freuen konnte.
Es war Besuchstag. Lexi wusste, es war falsch zuzulassen, dass Eva den weiten Weg zu ihr kam. Sie wünschte, sie wäre stark genug, ihr die Besuche zu verbieten, aber sie konnte es nicht. Sie war so verdammt einsam. Evas Besuche waren mittlerweile das einzig Gute in ihrem Leben, die einzige Stunde in der gesamten Woche, auf die sie sich freute.
Den ganzen Morgen zählte sie die Minuten und hörte zu, wie Cassandra sich in die Edelstahltoilette erbrach. Als die Wärterin sie abholen kam, sprang sie geradezu in die Höhe. Sie folgte peinlichst genau ihren Anweisungen und passierte verschiedene Türen und Kontrollen, bis sie schließlich in den großen Saal mit den Fenstern gelangte, wo Verwandte und Freunde zu Besuch kamen.
Dort suchte sie sich einen freien Tisch, setzte sich und tappte nervös mit dem Fuß. Zwar standen an den Wänden Wärterinnen und beobachteten alles, aber abgesehen davon sah es fast aus wie in einer Schulmensa.
Endlich kam Eva durch die Tür. Sie wirkte dünner und älter, und ihre Haare umstanden zerzaust ihr faltiges Gesicht. Wie immer sah sie aus, als fühlte sie sich unbehaglich und fehl am Platz.
»Hierher, Tante Eva«, rief Lexi und hob die Hand wie ein Schulmädchen.
Eva schlurfte zu ihr und ließ sich, kaum war sie an ihrem Tisch, auf einen Stuhl sinken. »Meine Güte«, sagte sie und presste sich eine Hand an die Brust. »Man könnte glatt annehmen, ich hätte was verbrochen.«
»Was meinst du damit?«
»Ach, hör gar nicht hin. Es war heute nur so mühsam, zu dir zu kommen. Irgendwas muss passiert sein. Mehr wollte ich nicht sagen. Wie geht es dir?« Sie langte über den Tisch und tätschelte mit strahlendem Lächeln Lexis Hand. »Wie ist es dir diese Woche ergangen?«
Lexi ertappte sich dabei, dass sie die Hand ihrer Tante umklammerte. Es fühlte sich so gut an, jemanden zu berühren. Das Ausmaß ihrer Bedürftigkeit traf sie wie ein Schock. Sie war so ausgehungert nach Kommunikation, nach Kontakt, dass sie sich in eine Erzählung des Buchs stürzte, das sie in dieser Woche gelesen hatte, und dann minutiös ihre Arbeit in der Wäscherei schilderte. Im Gegenzug erzählte Eva ihr vom Sommerschlussverkauf bei Walmart und vom Wetter in Port George.
Erst als Lexi nichts mehr zu erzählen einfiel, fiel ihr auf, dass ihre Tante sich verändert hatte. Lexis Haft dauerte erst zwei Monate, doch die wöchentlichen Besuche hatten bei Eva bereits ihre Spuren hinterlassen. Ihre Falten waren tiefer, ihre Lippen dünner geworden. Und sie räusperte sich ständig, als hätte sie Mühe zu sprechen.
Als Lexi dies einmal bewusst geworden war, konnte sie es nicht mehr übersehen. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie egoistisch sie sich gegenüber dieser Frau verhalten hatte, die immer nur freundlich zu ihr gewesen war.
»Hast du schon mit den College-Kursen angefangen?«, fragte Eva und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Nein.«
»Du könntest hier einen Abschluss machen. Genau wie du geplant hast.«
»Ich glaube, Exknackis kriegen keinen Platz fürs Jurastudium.« Lexi ließ sich auf ihren Stuhl zurücksinken. Sie fühlte sich plötzlich geschlagen und isoliert. Das Gefühl war ihr nicht neu, sie kannte es aus der Zeit, als sie bei Fremden aufwuchs. Damals hatte sie endlos auf ihre Mutter gewartet und war immer wieder enttäuscht worden. Manchmal konnte man eben nur überleben, wenn man alle Hoffnung aufgab. Und nicht mehr wartete.
Eva war für Lexi da gewesen wie noch kein
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