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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasa Stanisic
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Duisburg, Deutschland, Drina, »Drachenmaul«, Dragan, Deutschlehrer, Dalmatiner nicht Letzter. »Drachenmaul« könnte ich dir gar nicht übersetzen. Gestern ist mir auch zum ersten Mal ein Wort auf Bosnisch nicht eingefallen, »Birke«, ich musste es nachschlagen: »breza«. Birken wachsen hier in einem Park, den man Kruppwald nennt. Ganz Essen ist eigentlich eine Riesengarage und man möchte dem Unkraut zwischen den Bordsteinen danken, dass es hier aushält.
    Birke und Drachenmaul und Wechselblütiges Tausendblatt und Enzian und die Ruhr. Ich merke mir das alles, Asija. Ich sammle die deutsche Sprache. Sammeln wiegt die schweren Antworten und die schweren Gedanken auf, die ich habe, wenn ich an Višegrad denke, und die ich ohne Opa Slavko in der Nähe nicht aussprechen kann. Du kanntest Opa Slavko nicht, er wäre der Einzige gewesen, der dein Haar hätte erklären können.
    Am Morgen ihrer Rückkehr nach Višegrad hat mir Oma ein leeres Buch geschenkt. Die erste Seite hat sie selbst beschrieben. Neben der Geschichte von Andrić, in der Aska den Wolf schwindelig tanzt und so mit dem Leben davonkommt, ist diese eine Seite von meiner Oma das Hochgeschätzteste, das ich jemals gelesen habe.
    Asija, ich erinnere mich nicht an die Birken. Es kommt mir vor, als wäre ein Aleksandar in Višegrad und in Veletovo und an der Drina geblieben, und ein anderer Aleksandar lebt in Essen und überlegt sich, doch mal an die Ruhr angeln zu gehen. In Višegrad, bei seinen unfertigen Bildern, gibt es einen angefangenen und nicht zu Ende gebrachten Aleksandar. Nicht ich bin mehr Chefgenosse des Unfertigen, das Unfertige
ist mein Chefgenosse. Ich male nichts Unfertiges mehr. Ich schreibe in Omas Buch Geschichten von der Zeit, als alles gut war, damit ich später nicht über das Vergessen klagen kann. Wäre ich Fähigkeitenzauberer, Asija, würden die Erinnerungen schmecken wie damals das Stela-Eis.
     
    Erinnerst du dich an mich?
Aleksandar.

8. Januar 1994
    L iebe Asija, Nancy Kerrigan wurde beim Eislauf-Training mit einer Eisenstange am Knie verletzt. Ihre Konkurrentin Tonya Harding ist in das Attentat verstrickt. Das kam gerade in den Nachrichten, und meine Mutter verließ wütend das Wohnzimmer. Anschließend kam Somalia. Somalia und Bosnien, das ist jetzt alles gleich, nur dass es bei uns keine schwarzen Kinder mit kurzem Haar und geschultertem Gewehr gibt. Und kein Öl, sagt Onkel Bora.
    Meine Mutter hat sich »Magie auf dem Eis 1 – 6« gekauft, sechs Video-Kassetten mit Porträts aller Stars und Berichten von irgendwelchen Eiskunstlauf – Meisterschaften und Olympiaden – auch Sarajevo ist dabei. Abends sitzt sie vor dem Fernseher und murmelt: Rittberger, Salchow, Lutz und Toeloop, doppelt und dreifach. Manchmal schaltet Nena Fatima den Fernseher aus und versteckt die Kassette. Und Mutter sitzt immer noch da und sagt: Axel, Flip. Ihre Hände sind von der Wäscherei dermaßen kaputt, dass ich kein anderes Wort dafür finde als kaputt.
    Wir haben eine neue Wohnung, nur für unsere Familie. In die alte kam dreimal die Polizei. Die trägt hier Grün und ist auch sonst anders als bei uns, sie legt die Hand an den Pistolengriff und will keinen Schnaps. Sie sieht nicht nur ernst drein, sie meint es auch so und dreht dir schon mal den Arm auf den Rücken, wenn du dich ihr, wie Čika Zahid, zu schnell näherst. Wir bekamen Fristen und ließen sie verstreichen, weil wir nicht wussten, wohin. An dem Morgen, bevor die Polizisten zum letzten Mal und zahlreicher als sonst an der Tür nicht klingelten, sondern fest klopften, sagte mein Vater:
wir ziehen um. Er aß sein Brot zu Ende, und wir packten. Ich habe was für uns, sagte er, der Vermieter holt noch sein Sofa ab. Dann können wir rein.
    In der neuen Wohnung haben wir viel mehr Platz und sind weg von all dem Schmutz und Tratsch und Krach und dem Pfeifen der Autobahn und dem Gefühl, dass man nie im Leben entfernter sein könnte von einem Zuhause. Asija, wo ist dein Zuhause? Ich habe keine Ahnung, wo du bist. Gibt es in Sarajevo überhaupt noch Adressen?
    Ich habe Višegrad angerufen. Bis auf Oma Katarina und Zoran habe ich niemanden erreicht. Oma Katarina redet viel über früher. Wir hören ihr zu, wir widersprechen ihren Erinnerungen nicht, wir sagen: gut, Oma.
    Erinnerst du dich an Zoran? Ein Freund aus Višegrad, ein schweigsamer Rebell! Er sagt, die Stadt ist voller serbischer Flüchtlinge. Sie wohnen in der Schule oder haben sich einfach die leeren Häuser und Wohnungen von den

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