Wie der Soldat das Grammofon repariert
Ende, die Straße war verstopft, immer wieder blieben wir stehen. Einmal liefen maskierte Bewaffnete mit weißen Handschuhen hinter zwei Männern an der Wagenkolonne entlang. Die Männer waren geknebelt, ihre Augen mit einem Tuch verbunden und ich wollte versprechen, das Erinnern in den nächsten zehn Jahren einzustellen, aber Oma Katarina war gegen das Vergessen. Für Oma ist die Vergangenheit ein Sommerhaus mit einem Garten, in dem die Amseln zwitschern und die Nachbarinnen zwitschern und man Kaffee aus einem Brunnen schöpft, während Opa Slavko und seine Freunde um sie herum Verstecken spielen. Und die Gegenwart ist eine Straße, die wegführt von diesem Sommerhaus,
unter Panzerketten wimmert, nach schwerem Rauch riecht und Pferde hinrichtet. Beides müsse man erinnern, flüsterte mir Oma auf dem Rücksitz zu, die Zeit, als alles gut war, und die Zeit, in der nichts gut ist.
Asija, wir sind entkommen und unsere Bekannten in Belgrad umarmen uns erst, als wären wir Eichen, dann, als wären wir zerbrechlichstes Glas, und ich wünsche euch allen in Višegrad Entkommen und Umarmen.
Višegrad kam gleich im Fernsehen, hier sind diejenigen die Aggressoren, die in unserem Fernsehen die Verteidiger waren, und die Stadt ist nicht gefallen, sondern befreit worden, weil nicht ein Held, sondern ein Verrückter den Staudamm sprengen wollte. Der Nachrichtensprecher sagte, Schulen haben den Unterricht und Betriebe wieder die Arbeit aufgenommen. Die Telefonarbeiter anscheinend nicht – wir bekommen immer nur das Besetztzeichen.
Nena Fatima warf Bohnen für Oma Katarina und las aus den Bohnen Oma Katarinas Zukunft wortlos ab. Ich fragte Nena Fatima, was sie eigentlich will. Nena beachtete mich nicht. Ich sagte: mich jetzt anzuschweigen, kann später schwerwiegende Traumata bei mir auslösen. Ich habe keine Ahnung, antwortete ich, als Mutter fragte, woher ich das habe.
Asija, kannst du aus den Bohnen lesen?
Oma Katarina will zurück nach Višegrad. Vater versuchte nicht, es ihr auszureden, Mutter schrie, als sie hörte, dass Vater schwieg.
Vater will schweigen.
Mutter will schreien.
Ich frage mich, was Onkel Miki will. Immer noch weiß niemand, wo er ist.
Ich will eine Geschichte aus einer anderen Welt oder aus einer anderen Zeit hören, aber alle reden nur vom Jetzt und von der Frage: und was jetzt? Wenn ich von dieser Zeit und dieser Welt erzählen würde, müsste ich danach versprechen, es in den nächsten zehn Jahren nie wieder zu tun. Beginnen würde ich so: Kaum haben die Mütter zum Abendessen gerufen,
mit flüsternden Stimmen, stürmen Soldaten das Hochhaus, fragen, was gibt es, setzen sich zu uns an die Sperrholzplattentische im Keller.
Ich muss mir nichts ausdenken, um von einer anderen Welt und von einer anderen Zeit zu erzählen.
Heute Nacht hörte ich Mutter schlafend seufzen, sie wachte mit verkrustetem Blut unter der Nase auf. Mit den Nachbarn gibt es Probleme, weil wir in ihrer Nähe sind und sie diese Nähe nicht möchten. Hätte man auch ihnen einen Krieg gegeben, hätten sie sofort auf uns geschossen. Religion ist nicht das Opium des Volkes, sondern sein Untergang. Sagt jedenfalls mein Vater. Ein Junge aus der Straße nannte mich einen Bastard. Meine Mutter habe mein serbisches Blut vergiftet. Ich wusste nicht, ob ich ihn dafür zusammenschlagen sollte oder trotzig und stolz sein. Ich war weder trotzig noch stolz, und wurde zusammengeschlagen.
Asija, ich schicke dir ein Bild mit. Das bist du auf dem Bild. Es gibt leider keine solche Farbe wie dein Haar schön ist, deswegen erkennst du dich vielleicht nicht. Es ist mein letztes Bild des Unfertigen. Es ist unfertig, weil du alleine drauf bist. Früher habe ich das Unfertige gemocht.
Viele Grüße,
Aleksandar.
9. Januar 1993
L iebe Asija, ich wollte dir aus dem »Wörthersee« schreiben – Züge haben in Deutschland Namen –, aber der Wörthersee war so schnell, dass meine Augen mit der Landschaft nicht mitkamen und mir ein wenig übel wurde von so vielen schnellen Feldern und Häusern und einer schnell verdrückten Packung runder Kekssandwiches mit Schokoladenbelag. Wir wohnen seit zwei Wochen bei meinem Onkel Bora und meiner Tante Taifun in einer Stadt namens Essen, gleich an einer Autobahn. Oma Katarina ist zurück nach Višegrad, sie sagte: ich will bei meinem Mann bleiben.
Wo er ist, braucht er niemanden, sagte mein Vater.
Jeder braucht jemanden und die Toten sind die einsamsten, sagte ich und musste aus dem Zimmer. Noch haben wir von
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