Wie der Vater so der Tod
zubinden.
Als wir bei Alex zu Hause sind, holt er zwei Mountainbikes in ausgezeichnetem Zustand hervor. »Dies gehört meiner Mutter«, sagt er und gibt mir das violette Rad und einen Helm. Alex wohnt noch weiter draußen als ich. Wenigstens müssen wir nicht damit rechnen, dass sich jemand über zwei Teenager wundert, die eigentlich in der Schule sein sollten. Wir radeln über die Zufahrt und folgen dem Verlauf einer nicht asphaltierten Straße. Da es hier keinen Verkehr gibt, fahren wir nebeneinander.
»Hat deine Mutter nichts dagegen, dass ich ihr Rad benutze?«
»O nein, dagegen hat sie ganz und gar nichts. Mit dem Schwänzen kommt sie nicht klar.«
»Warum machst du das? Früher hast du nie geschwänzt. Nicht dass ich darauf geachtet hätte.« Ich schalte in einen anderen Gang, als wir eine Steigung erreichen.
Alex sieht starr geradeaus. »Was hat Zach gemeint, als er fragte, ob du mir davon erzählt hättest? Wovon?«
»Beantwortest du Fragen immer mit einer Gegenfrage?« Ich bin auf dem besten Wege, mich richtig in Alex zu verknallen, aber ich möchte ihn nicht in den Mist verwickeln, in dem ich stecke. Außerdem kann ich kaum etwas dazu sagen, ohne in Tränen auszubrechen. »Nichts Weltbewegendes. Ich muss mich nur um etwas kümmern.«
»Es hat nicht zufällig mit dem blauen Fleck in deinem Gesicht zu tun, oder?«
Ich dachte, den hätte ich unter Make-up versteckt.
»Nein, natürlich nicht«, antworte ich viel zu schnell. Den Bluterguss habe ich mir zugezogen, als mich Dad wegen der Zigaretten gegen die Wand gestoßen hat. Ich versuche zu lachen, aber es klingt eher nach einer Hyäne. Alex sieht mich an und runzelt die Stirn, sagt aber nichts.
Wir kommen an meinem Lieblingsbaum vorbei, einer Trauerweide. Ich mag Trauerweiden, weil ich bei ihrem Anblick sowohl traurig als auch glücklich bin. Beim Haus meiner Großeltern ist Matt immer in die Trauerweide geklettert. Ich stelle ihn mir im Himmel vor, wie er auf einem Ast ganz oben liegt, das eine Knie gebeugt, die Hände unterm Kopf. Ich stehe immer unten, sehe zu ihm hoch und wünsche mir genug Mut, ebenfalls nach oben zu klettern. Und auch den Mut, Dad die Stirn zu bieten.
»Ich habe gelogen«, sagt Alex, als er sich die Bilder an der Wand unseres Wohnzimmers ansieht.
»Wobei?«
»Bei der Super-Siebziger - CD . Sie gehört mir, nicht meiner Mutter.«
»Oh. Und warum hast du das nicht gleich gesagt?«
Er hebt verlegen die Schultern. »Wahrscheinlich wollte ich dich beeindrucken.«
»Du hättest es sofort zugeben sollen. Ich habe mit Melodien aus den Siebzigern Klavier spielen gelernt. Es wächst einem ans Herz. Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast. Und für die Radtour. Es war schön, ein bisschen Abstand von allem zu gewinnen.«
»Kein Problem. Ihr habt hier viele Bilder von Zügen und Lokomotiven. Finde ich cool.«
»Ja, mein Vater ist ein echter Eisenbahnfan.«
»Spielst du was für mich?«, fragt Alex und deutet aufs Klavier.
»Musst du nicht zum Footballtraining?«
»Ich kann mich ein bisschen verspäten«, erwidert er und hebt vielsagend die Brauen.
Ich spiele Wildfire . Als ich fertig bin, tritt Alex hinter mich und drückt mir die Schultern. Er spielt mit meinem Haar, das ich noch immer offen trage. Dann setzt er sich neben mich auf die Klavierbank.
»Du siehst heute wirklich gut aus«, sagt er. Mein Herz klopft glücklich, wie eine kleine Trommel.
Alex’ Gesicht kommt näher. Sein Mund berührt meine Lippen, ganz sacht. Was mache ich? Bald verlasse ich diesen Ort, für immer. Ich sollte keine falschen Hoffnungen in ihm wecken. Ich sollte versuchen, meine Mutter zu finden. Bring ihn zur Tür!, sagt eine innere Stimme. Dann reibt Alex seine Wange sanft an meiner. Wegen seiner Bartstoppeln fühlt es sich ein bisschen rau an, und ich rieche sein Aftershave. Er küsst mich länger, mit etwas mehr Leidenschaft. Ich will mehr.
Ich weiß nicht genau, wie es passiert, aber plötzlich sind wir uns ganz nahe, Brust an Brust, meine Beine auf seinen. Wir küssen uns voller Hingabe, und mein ganzer Körper prickelt. Die Klavierbank ist unbequem, aber ich bewege mich nicht, denn es soll nicht aufhören. Nicht jetzt. Nie.
Das Telefon klingelt. Vielleicht ist es Mom. Wir küssen uns weiter. Es klingelt erneut. Ich muss rangehen. Ich küsse ihn noch einmal, stehe dann auf und nehme ab. Alex folgt mir und schlingt mir den Arm um die Taille.
Es ist Dad. O Gott. Er weiß doch nicht, dass Alex hier ist, oder? Eiseskälte umfasst mich.
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