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Wie die Welt endet: Roman (German Edition)

Wie die Welt endet: Roman (German Edition)

Titel: Wie die Welt endet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will McIntosh
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und schwenkte sein Gasgewehr. Er trug eine altmodische Offiziersuniform mit Schulterklappen und bunt gestickten Auszeichnungen auf der Brust. Der andere war wie ein Postbote gekleidet. Ich stellte mich mit dem Gesicht an die Ziegelmauer.
    » Was ist denn los?«, schluchzte eine Frau.
    » Ruhe! Umdrehen! Zur Wand!«, sagte der Postbote. Natürlich war er kein Postbote– ich hatte schon von einer Bande gehört, einer gewalttätigen politischen Bewegung, die sich die Jumpy-Jumps nannten, sich verkleideten und wahllos Menschen quälten. Die Beschreibung passte.
    Ich hörte, wie der als Priester verkleidete Mann aus der Hintertür kam. Er sagte etwas zu der Frau, die ihm am nächsten stand, aber ich konnte nichts verstehen. Sie murmelte eine Antwort.
    Ich hatte nur noch drei Dollar. Wenn diese Kerle uns ausrauben wollten, würden sie vielleicht böse sein, weil ich nicht mehr hatte. Nicht mal eine Uhr oder einen Ring oder einen anderen Wertgegenstand.
    Als ein Schuss fiel, zuckte ich zusammen. Andere schrien erschrocken auf. Ich drehte den Kopf und sah, wie die Frau auf dem Asphalt zusammensackte. Blut rann aus ihrer Schläfe. Ich wandte mich zur anderen Seite, legte die Wange an die rauen Ziegelsteine und unterdrückte ein Schluchzen.
    » Mein Gott, was ist denn hier los?«, fragte ein Mann. Ich konnte ihn nicht sehen und hatte Angst, mich ihm zuzuwenden. Der Priester sagte etwas zu ihm, leise, aber mit Nachdruck.
    » Wie bitte?«, fragte der Mann an der Wand. » Ich verstehe nicht, was Sie sagen. Ich verstehe nicht, was Sie wollen.«
    Der Priester sprach wieder.
    » Bitte. Ich verstehe Sie nicht.«
    Ich hörte das Pfeifen eines Gasgewehrs, hörte, wie jemand stürzte und sich würgend erbrach. Menschen schrien. Jemand versuchte, eine Frage zu beantworten, die einer der anderen Bewaffneten ihm gestellt hatte.
    Ich begriff nicht, was vor sich ging. Es klang, als würden sie die Leute verhören, ihnen aber keine Möglichkeit zum Antworten geben.
    Der Priester ging hinter mir vorbei zu dem Mann neben mir, einem Schwarzen etwa Mitte vierzig. Angestrengt versuchte ich zu hören, was mein Nachbar gefragt wurde. Wenn ich die Frage kannte, fiel mir vielleicht die richtige Antwort ein, eine Antwort, die den Priester davon abhalten würde, mich umzubringen.
    Irgendwie wusste ich aber, dass es keine richtige Antwort gab. Sie trieben nur ein scheußliches Spiel mit uns.
    Ich riskierte einen Blick hinter mich, um zu prüfen, ob ich vielleicht weglaufen könnte. Die Gasse war lang und menschenleer. Sie würden reichlich Zeit haben, mich abzuknallen, bevor ich irgendwo Deckung fand.
    » Wie viele Gräber gibt es auf dem Saint-Bonaventure-Friedhof?«, fragte der Priester.
    » Ich weiß nicht… bitte, töten Sie mich nicht«, flehte der Schwarze.
    Der Priester ging weg. Gleich darauf kam er mit einem Eimer zurück.
    Er blieb neben mir stehen.
    » Wir viele Gräber?«, fragte er. Sein Mund war dicht an meinem Ohr, sein Atem kitzelte meinen Hals.
    Ich wollte ihm sagen, dass er sich irrte, dass er doch eigentlich den Mann neben mir befragte. Er goss den Eimer über meinem Kopf aus. Es stank. Pisse oder Abwasser.
    Er trat einen Schritt zurück und betrachte mich von oben bis unten. » Wo wohnst du?«, fragte er.
    » East Jones Street«, sagte ich rasch, erleichtert, dass ich die Antwort wusste. Ich wollte kooperativ sein. Ich sehnte mich nach seiner Anerkennung.
    Er hob das Gasgewehr, drückte es gegen meinen Nasenflügel.
    » Wie viele Schritte sind es von hier bis zur Oglethorpe Mall?«
    » Ich weiß die richtige Antwort nicht.«
    » Bist du bereit zu sterben?«
    » Ich will nicht sterben.«
    Der Schuss aus dem Gasgewehr stand unmittelbar bevor. Mit meinen Vorgängern war der Mörder fast fertig, und gleich würde er mir die schwarze Maske, die vorn am Lauf hing, übers Gesicht ziehen und abdrücken. Ich überlegte, wie ich diesen Moment hinauszögern konnte, wie ich ihn dazu bringen konnte, mir weitere Fragen zu stellen oder zu einem anderen Opfer zu gehen, und wenn auch nur für einen Moment. Ich wollte nicht sterben. Ich versuchte zu begreifen, dass diese Situation Realität war. Das Sterben würde sehr schmerzhaft sein, aber nur wenige Momente dauern, und dann war mein Leben vorbei.
    » Hier, iss.« Er hielt mir einen Plastikdeckel vors Gesicht. Darauf lag ein schleimiges, weißliches Etwas mit geschlossenen Augen und kleinen Ärmchen, die an den Rumpf angewinkelt waren. Ein Fötus, von einer Ratte vielleicht, oder von einer Katze.

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