Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
Strand.«
» Aha. Und wer ist › alle‹?«
» Colin, Jeannie, Ange, Cortez«, zählte ich auf. » Kommst du mit?«
» Klar.« Aber besonders begeistert klang sie nicht. Anscheinend war sie nicht gern mit meinen Freunden zusammen. Sie selbst hatte offenbar kaum Freunde, obwohl sie viele Leute kannte.
Ich hielt meine Plastiktüte hoch. » Erinnerst du dich, dass ich dir versprochen hatte, ich würde dir meine Kinderfotos zeigen? Willst du sie sehen?«
Deirdre nahm eins der Alben und fing an, die Seiten umzublättern. Ich freute mich darauf, ihr die Fotos zu zeigen und ihr dabei von meiner Vergangenheit zu erzählen.
» Hast du auch welche?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. » Nee.«
Ich wartete auf eine ausführlichere Antwort, aber offenbar wollte sie nicht mehr dazu sagen. » Wie kommt’s?«
Sie seufzte genervt. » Weil ich mich an meine verdammte Kindheit nicht erinnern will.« Deirdre schlug das Album zu. » Vielleicht gucke ich sie mir später mal an.« Sie griff nach der Fernbedienung und zappte sich durch die Kanäle.
» Okay, kein Problem.« Deirdre hatte mir nie von ihrer Kindheit erzählt, und jetzt war mir klar, warum nicht. Ich schob meine Alben unter die Couch und setzte einen weiteren Punkt, für den ich dankbar sein konnte, auf meine imaginäre Liste.
An diesem Abend liefen mir Schauer über den Rücken, als ich beobachtete, wie Deirdre bei ihrem Konzert ihre schwarze Magie einsetzte. Anschließend wurde sie von Zuhörern umringt, die noch mit ihr weggehen wollten.
» Nö«, sagte Deirdre und drückte sich an mich. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl. » Komm.« Sie spreizte die Hand für mich, und wir verschränkten unsere Finger. Ihre Hand war kühl und weich und voller Versprechungen.
Wir machten uns auf den Weg zu ihrer Wohnung.
» Rattenscharf, Deirdre! Das geht durch bis auf die Knochen«, rief ein Junge, als wir vorbeigingen. Es war der Teenager mit den kohlschwarzen Strichen im Gesicht. Er erkannte mich nicht.
Deirdres Publikum war so jung. Die meisten konnten sich nicht einmal daran erinnern, wozu die Parkuhren an den Straßen einmal gedient hatten oder was diese verrosteten Hinweisschilder bedeuten sollten: » Samstag 12-16 Uhr Parkverbot wegen Straßenreinigung«. Eine gründliche Straßenreinigung wäre in der Tat nötig gewesen. Wir stiegen die Treppe zu Deirdres Wohnung hinauf. Ich stand hinter ihr, hatte die Arme um ihre Taille gelegt und schaute auf ihren Kopf hinunter, während sie die Tür aufschloss.
» Willst du mal was hören?« Deirdre schleuderte ihre Schuhe von sich und zog eine CD aus einem langen Regal.
» Na klar. Ein neuer Song?«
» Nee.« Sie steckte die Scheibe in den CD -Spieler.
» Savannah 911: Worum geht es?«, fragte eine Frauenstimme.
» Ist das echt?«, wollte ich wissen. Deirdre nickte. » Pst!«
» Hier sind Einbrecher… mit Messern… sie haben mich und meine Kinder mit Messern… meine kleinen Jungen…«, sagte eine andere Frauenstimme. Es war tatsächlich echt. Diese Qual und diese Angst konnte man nicht nachahmen.
» Wer? Wer war das?«, fragte die Frau in der Notrufzentrale.
» Mein kleiner Junge stirbt.«
» Bleiben Sie dran, bleiben Sie dran«, sagte die Zentrale.
» Ich hab eine ganze Sammlung davon«, erklärte Deirdre. An ihrem Hals pulsierte eine Ader. » Da kommt man gar nicht so leicht dran.«
» Oh Gott, meine Kinder sterben.«
» Mach das aus!«, hätte ich sagen müssen, ich hätte ihr die Fernbedienung wegnehmen und auf die Knöpfe drücken müssen, bis die Stimmen schwiegen. Aber Deirdre sollte nicht von mir denken, dass ich… ja, was? Dass ich ein Weichei war. Dass ich uncool war.
Sie knöpfte ihre Bluse auf. Ich beugte mich vor und küsste die weiche Haut in ihrem Ausschnitt.
» Er ist tot. Nein! Nein! Meine Kinder sind tot«, weinte die Frau.
Deirdre verzog den Mund. » Ich fahre nicht Fahrrad.«
» Aber zu Fuß gehen können wir auch nicht«, sagte ich. » Bis zum Strand sind es zehn Meilen. Bis wir da ankommen, fahren die anderen schon wieder nach Hause.«
Sie hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und ein Bein angewinkelt. » Dann fahr du doch mit, ist mir egal.« Aber das meinte sie natürlich nicht so. Wenn ich ohne sie mit meinen Freunden losgefahren wäre, hätte sie tagelang nicht mit mir gesprochen. Ich schaute in die Äste über mir und fühlte mich in der Falle. Es war so selten, dass wir gemeinsam etwas Nettes unternahmen. Ich wollte nicht darauf verzichten.
» Wie könnten
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